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E-Rezept unter Beschuss: Technische Schwächen und ihre Auswirkungen

Ein warm beleuchtetes, authentisches Porträt einer entspannten Ärztin in moderner Praxis, die mit einem freundlichen Lächeln ein Tablet mit einer digitalen Rezept-App zeigt, umgeben von natürlichem Tageslicht und medizinischer Ausstattung, das Hoffnung und den Wunsch nach einer funktionierenden Digitalisierung im Gesundheitswesen verkörpert.

Seit seiner bundesweiten Einführung steht das E-Rezept immer wieder in der Kritik. Hohe Ausfallraten, mangelhafte Nutzerführung und Sicherheitsbedenken werfen die Frage auf: Versagt die Digitalisierung im Gesundheitswesen gerade dort, wo sie den größten Nutzen bringen sollte?

Ein System mit Anlaufschwierigkeiten

Mit dem E-Rezept sollte alles einfacher, effizienter und sicherer werden – so zumindest das Versprechen des Bundesgesundheitsministeriums und der gematik, die maßgeblich für die technische Umsetzung verantwortlich ist. Doch die Realität sieht anders aus: Seit der verpflichtenden Einführung am 1. Januar 2024 berichten Apotheken, Ärztinnen und Patienten über regelmäßige technische Störungen, schlechte Usability und fehlende Interoperabilität.

Ein Beispiel: Laut dem DAV (Deutscher Apothekerverband) ist es bei Abruf und Einlösung von E-Rezepten in Apotheken immer wieder zu Systemausfällen gekommen. Im Januar 2024 waren laut einer Umfrage des Apothekerverbands in mehreren Bundesländern teils über 15 Prozent der Apotheken zeitweise nicht in der Lage, elektronische Rezepte einzulösen. Diese Ausfälle sorgten nicht nur für Frust bei Patienten, sondern führten zu Verzögerungen in der Medikamentenversorgung.

Ein weiteres Problem liegt in der mangelhaften Nutzerführung innerhalb der E-Rezept-App der gematik. Ärzte kritisieren beispielsweise den hohen administrativen Aufwand bei der Signatur von E-Rezepten: Jeder Rezeptvorgang muss einzeln signiert werden, was Arbeitszeit kostet und zu Medienbrüchen im Prozess führt. Dies führt dazu, dass viele Praxen den größten Teil ihrer E-Rezepte auf Papier oder in gedruckter Tokenform ausgeben – ein klarer Widerspruch zum Digitalisierungsanspruch.

Digitaler Flickenteppich statt nahtlosem System

Ein zentrales technisches Problem des E-Rezepts liegt in der Infrastruktur. Das System basiert auf der Telematikinfrastruktur (TI), deren Verlässlichkeit immer wieder infrage gestellt wird. Die TI wurde ursprünglich als sichere Kommunikationsplattform für das deutsche Gesundheitswesen konzipiert, kämpft jedoch mit Altlasten und nachträglich angepassten Komponenten. Die Folge: eine Architektur, die weder skalierbar noch besonders stabil ist.

So kommt es regelmäßig zu Ausfällen bei zentralen TI-Diensten wie dem Verzeichnisdienst (VZD), dem Identity Provider der gematik oder der Kommunikation im Medizinwesen (KIM). Besonders kritisch ist, dass viele dieser Dienste zentralistisch organisiert sind und keine echten Redundanzen bestehen. Das Resultat sind Single Points of Failure, die im Ernstfall die gesamte Versorgungskette unterbrechen können.

Ein aktueller Bericht des Chaos Computer Clubs (CCC) vom März 2025 beschreibt zudem eine Reihe von sicherheitstechnischen Schwächen in der Authentifizierungskette des E-Rezepts – insbesondere im Zusammenspiel von elektronischem Heilberufsausweis (eHBA), Komfortsignatur und zentralem Verzeichnisdienst.

Was die Deutsche Bahn mit dem E-Rezept gemeinsam hat

Der Vergleich mit der Deutschen Bahn mag auf den ersten Blick weit hergeholt wirken, doch er ist treffender, als viele glauben. Beide Systeme – die Bahn und das E-Rezept – kranken an denselben Symptomen: Jahrzehntelanger Investitionsstau, komplexe IT-Architekturen mit historisch gewachsenen Strukturen und eine Umsetzung der Digitalisierung, die technologische Möglichkeiten ignoriert oder inkompatibel implementiert.

Wie bei der Bahn kommt es auch beim E-Rezept zu teuren Pannen durch fehlende Redundanzmechanismen, unzureichende Tests vor Produktivsetzung und fehlendes Service-Design mit dem Nutzer im Fokus. Die Folge sind hohe Folgekosten, unzufriedene Anwender und ein wachsendes Misstrauen gegenüber digitalen Lösungen.

Hinzu kommt die fehlende Verbindlichkeit digitaler Workflows: Während die Nutzer in anderen Lebensbereichen auf durchdigitalisierte Prozesse zählen können – etwa beim Online-Banking oder digitalen Steuerbescheid – wirkt das E-Rezept an vielen Stellen wie ein Prototyp unter Realbedingungen.

Stimmen aus der Branche: Zwischen Frust und Hoffnung

Vertreter aus Ärzteschaft, Apothekerschaft, Softwareherstellern und Datenschutzorganisationen äußern sich zunehmend kritisch über den Status quo des E-Rezepts. Dr. Bettina Frank, Hausärztin aus Berlin, sagt im Interview: „Wir sind in der Praxis ständig mit Workarounds beschäftigt. Viele Kollegen drucken die Rezept-Token aus, weil der E-Rezept-Server mal wieder nicht erreichbar ist oder die eGK nicht lesbar ist.“

Aurel Schmid, CTO eines großen Apotheken-Softwarehauses, kritisiert vor allem das starre Regelwerk der gematik: „Wir haben kein agiles Release-Management, sondern umständliche Zulassungsverfahren, die bei jedem Update Wochen dauern. Das lähmt nicht nur uns als Anbieter, sondern vor allem unsere Kunden vor Ort.“

Auch Datenschützer wie der Verein Digitalcourage sehen Nachbesserungsbedarf – insbesondere hinsichtlich Transparenz und Zugriffsrechte innerhalb der TI und der E-Rezept-App. Ein zukunftsfähiges digitales Rezeptsystem müsse nicht nur funktional, sondern auch datensouverän und nutzerfreundlich sein.

Gesundheitsversorgung unter digitalen Vorzeichen

Die Konsequenzen technischer Schwächen des E-Rezepts sind weitreichend: Verzögerungen in der Medikamentenversorgung können bei chronisch kranken oder akut behandlungsbedürftigen Patienten schwerwiegende Folgen haben. Bisherige Backup-Maßnahmen wie das gedruckte Token oder Notfalllösungen über das Faxgerät (!) sind kaum dazu geeignet, eine moderne Versorgung abzusichern.

Hinzu kommt ein weiteres Risiko: Sinkt das Vertrauen in die digitale Infrastruktur, wird auch die flächendeckende Einführung anderer digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA, ePA etc.) erschwert. Der breite Nutzen dieser Anwendungen steht und fällt mit der Stabilität, Sicherheit und Usability der darunterliegenden Systeme – allen voran der TI und des E-Rezepts.

Ein Blick nach Skandinavien zeigt, wie es anders geht: In Ländern wie Estland, Finnland oder Dänemark sind digitale Rezeptsysteme etabliert, redundant abgesichert und vollständig in ambulante wie stationäre Strukturen integriert. Sie zeichnen sich durch hohe Verfügbarkeiten (über 99,9 %) aus und gelten bei Nutzern wie Leistungserbringern als verlässlich.

Statistiken und verlässliche Daten

Nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit wurden bis Mai 2025 rund 430 Millionen E-Rezepte in Deutschland ausgestellt. Laut einer Studie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (ZI) aus Juni 2025 mussten 21 % der hausärztlichen Praxen im ersten Quartal 2025 mindestens einmal pro Woche aufgrund technischer Probleme auf digitale Rezeptausstellung verzichten.

Eine Umfrage des Apothekerverbands ABDA unter 1.200 Apotheken ergab, dass 37 % der Betriebe wiederholt Ausfälle bei der Rezeptübertragung über die TI-Plattform beklagt haben – mit durchschnittlichen Dauer von 2,4 Stunden pro Ausfall.

Was jetzt passieren muss: Drei Handlungsempfehlungen

  • TI-Infrastruktur modernisieren: Die Telematikinfrastruktur muss auf eine echte Cloud-native, verteilte Architektur migriert werden, um Redundanz, Skalierbarkeit und Sicherheit zu gewährleisten.
  • Usability first: Die E-Rezept-App und angrenzende Fachanwendungen müssen konsequent nach UX-Prinzipien weiterentwickelt und barrierefreier gestaltet werden – mit Fokus auf Patientinnen, ältere Menschen und medizinisches Fachpersonal.
  • Verbindliche Reaktionszeiten und Notfallprozess: Die gematik sollte einen klar kommunizierten Notbetrieb-Standard einführen mit garantierten Service-Zeiten und Ausfallszenarien z. B. über dezentrale Zwischenspeicherung.

Fazit: Digitalisierung darf Vertrauen nicht verspielen

Das E-Rezept ist ein Paradebeispiel dafür, wie technische Schwächen die besten Absichten unterlaufen können. Umso wichtiger ist es jetzt, die infrastrukturellen Mängel zu beheben, Prozesse zu vereinfachen und Vertrauen bei allen Beteiligten zurückzugewinnen. Nur durch stringente Weiterentwicklung, offene Kommunikation und echten Nutzerfokus kann das E-Rezept zur Erfolgsgeschichte werden – so wie es andere Länder längst vorgemacht haben.

Was denken Sie über die Digitalisierung im Gesundheitswesen? Welche Erfahrungen haben Sie mit dem E-Rezept gemacht? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren oder teilen Sie Ihre Meinung auf unseren Social-Media-Kanälen.

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