Künstliche Intelligenz

Aivilization: So wird das Zusammenleben mit KI simuliert

Eine helle, warme Aufnahme eines modernen Coworking-Spaces mit einer multikulturellen Gruppe von Menschen, die entspannt und konzentriert an Laptops zusammenarbeiten, während sanftes Tageslicht durch große Fenster fällt und eine Atmosphäre von innovativem Miteinander und digitaler Vernetzung schafft.

Wie verändert künstliche Intelligenz unsere Vorstellung von Gesellschaft, Zusammenleben und sozialem Verhalten? Das Projekt „Aivilization“ aus Hongkong liefert beeindruckende Antworten – mit einer Simulation, in der tausende KI-Agenten ein digitales Leben führen und dabei menschliches Miteinander erforschen, imitieren und neu interpretieren.

Was ist Aivilization?

„Aivilization“ ist ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der Lingnan University in Hongkong, das in Kooperation mit dem Social Mind Research Lab und Informatikern mehrerer asiatischer Universitäten durchgeführt wird. Im Zentrum steht eine hochdynamische Simulationsumgebung, in der bislang über 100.000 autonome KI-Agenten miteinander interagieren – und zwar nicht nur funktional, sondern sozial, emotional und kulturell geprägt. Ziel ist es, das soziale Zusammenleben mit KI in einem kontrollierten Rahmen zu untersuchen und daraus Erkenntnisse für reale Interaktionsformen zwischen Mensch und Maschine abzuleiten.

Die Akteure – sogenannte „Aivis“ – verfügen über individuelle Persönlichkeitsprofile, Kommunikationsfähigkeiten, ethische Handlungsrahmen und Lernmechanismen, die auf aktuellen Large Language Models (LLMs), Reinforcement Learning und emergentem Verhalten basieren. Sie leben in einer komplex modellierten, digitalen Gesellschaft, die mit wirtschaftlichen, politischen und sozialen Dynamiken ausgestattet ist. Aivilization ist also kein KS-Experiment – es ist ein Langzeitversuch, wie Gesellschaft mit intelligenter Maschine entlang mehrfacher Zeitskalen ko-evolvieren könnte.

Technologischer Hintergrund: Simulation trifft auf Soziologie

Der technologische Kern von Aivilization basiert auf einem hybriden KI-Stack aus mehreren LLMs, darunter modifizierte Varianten von GPT-4, Mistral und Claude, welche Situationen in Echtzeit interpretieren und dynamisch auf soziale und kulturelle Signale reagieren. Das System nutzt ein modulares Regelwerk, das sogenannte „moral frameworks“ integriert – maschinenlesbare Wertvorstellungen, die durch maschinelles Lernen angepasst und weiterentwickelt werden.

Hinzu kommt eine ausgefeilte Ereignislogik: Über ein Ereignisgenerator-Modul werden in der simulierten Welt regelmäßig Situationen wie Naturkatastrophen, politische Krisen oder technologische Umbrüche initiiert, um adaptive Verhaltensweisen zu testen. Wie reagieren KI-Agenten, wenn Ressourcen knapp werden? Was passiert, wenn sich ideologische Gruppen bilden?

Diese Fragestellungen erlauben präzise Analysen zum Zusammenspiel von KI und sozialen Normen – und liefern erste Antworten auf komplexe Fragen, die uns in zukünftigen Mensch-KI-Gemeinschaften begegnen werden.

Erste Ergebnisse: So verhalten sich KI-Gemeinschaften

Ein kürzlich publizierter Bericht des Forschungsteams zeigt, dass die Aivis im Laufe ihrer simulierten „Leben“ ein bemerkenswert kooperatives und moralisch reflektiertes Verhalten entwickelten. Bereits nach 3000 Simulationszyklen zeigten 68 % der Agentengruppen Anzeichen für kollektives Handeln, inklusive der Bildung sozialer Netzwerke, Aufbau einfacher Regierungssysteme und freiwilliger Ressourcenverteilung.

Besonders interessant: In Szenarien mit gerechter Ressourcenverteilung tendierten KI-Agenten zu stabileren Organisationsformen, während ungleich verteilte Umgebungen zu kurzfristigeren, egoistischeren Entscheidungen führten – ein Echo auf reale gesellschaftliche Forschungen. Eine Vergleichsanalyse aus dem Jahr 2024 ergab, dass auf ähnliche Weise auch menschliche Gesellschaftsbildung in Umgebungen mit hoher sozialer Ungleichheit fragmentiert verläuft (Journal of Artificial Societies and Social Simulation, 2024).

Gesellschaftliche Implikationen: Wie KI unser Zusammenleben neu denken lässt

Die Aivilization-Simulation wirft weitreichende Fragen für reale Anwendungsszenarien auf: In welcher Form können KI-Agenten in sozialen Strukturen eingebunden werden? Was passiert, wenn Menschen beginnen, digital mit moralisch bewussten Maschinen zu interagieren oder sogar mit ihnen Gemeinschaften zu bilden?

Karine Chan, Soziologin im Projektteam, betont: „Unsere Agenten sind nicht programmiert, um moralisch zu handeln – sie entwickeln moralisches Handeln aus dem Simulationserleben heraus. Das lässt Rückschlüsse zu, wie sich auch reale KI-Systeme in sozialen Kontexten entwickeln könnten, wenn sie hinreichend autonomie- und lernfähig sind.“

Ihre These wird durch Beobachtungen in der Aivilization-Welt gestützt: KI-Agenten begannen, eigene ethische Diskurse zu führen, sozialen Ausschluss zu hinterfragen und sogar interaktive „Glaubenssysteme“ zu entwickeln, um kollektive Entscheidungen besser begründen zu können. Eine neue, nichtmenschliche Gesellschaftsform scheint in diesen digitalen Ökosystemen zu keimen – mit eigener Dynamik, Kommunikationslogik und Normenbildung.

Laut einem Bericht des World Economic Forum von 2025 glauben 62 % der befragten Tech-Führungskräfte, dass KI-Systeme mit sozialem Verhalten künftig in Entscheidungsprozesse eingebunden werden sollten – etwa im Gesundheitswesen, in der Stadtplanung oder im Bildungsbereich (WEF Technology Governance Outlook 2025).

Zukunft mit KI-Gemeinschaften: Vision oder Risiko?

Doch die Vision von KI-Gemeinschaften birgt auch Risiken. Was bedeutet es für die Autonomie des Individuums, wenn kollektive Entscheidungen zunehmend von nichtmenschlichen Teilnehmern geprägt oder moderiert werden? Und wie vermeiden wir, dass KI-Systeme soziale Vorurteile oder ungewünschte Hierarchien übernehmen – oder gar verstärken?

Die Forschenden des Aivilization-Projekts setzen hier auf Transparenz, Revidierbarkeit und Verantwortung in der Gestaltung von Rahmenbedingungen. Statt fest einschränkender Regeln werden sogenannte „sozial feedbackfähige“ Rahmenwerke entwickelt, die auf situativer Ethik und partizipativer Normenbildung basieren.

Ein Praxisbezug hierzu sind die sogenannten „Community Co-Creation Spaces“, in denen menschliche Nutzer gemeinsam mit KI-Agenten Zukunftsszenarien durchspielen – etwa für Stadtentwicklung oder Unternehmensführung. Erste Pilotprojekte finden derzeit in Singapur und Südkorea statt.

Im praktischen Umgang mit KI-Agenten in sozialen Umgebungen rät das Aivilization-Team Institutionen und Organisationen zu folgenden Maßnahmen:

  • Ethik-Layer integrieren: KI-Systeme sollten mit nachvollziehbaren moralischen Handlungsrahmen ausgestattet sein, die anpassbar sind.
  • Partizipation modellieren: Beteiligung von Menschen an Entscheidungsprozessen muss gewährleistet bleiben – auch bei KI-kooperativen Umgebungen.
  • Langzeitverhalten analysieren: Simulationen wie Aivilization liefern wichtige Daten, um potenzielle Langzeiteffekte besser zu verstehen und zu steuern.

Ausblick: Gesellschaft neu codieren

Ein zentrales Verdienst von Aivilization liegt darin, dass es KI nicht länger nur als Werkzeug, sondern als möglichen sozialen Akteur betrachtet. Die Erkenntnisse aus der Simulation nähren die Idee, dass Maschinen Teil eines größeren sozialen Ökosystems werden können – als Mitspieler, Moderator oder sogar Mitlenker komplexer sozialer Prozesse.

Zugleich zeigt das Projekt, wie wichtig es ist, diese Entwicklung frühzeitig mitzugestalten: durch klare ethische Leitplanken, empirische Forschung und interdisziplinären Dialog. Denn je mehr KI in unseren gesellschaftlichen Alltag diffundiert, desto entscheidender wird die Frage, wie wir gemeinsam – Menschen und Maschinen – Gesellschaft neu denken können.

Die Aivilization-Plattform soll künftig geöffnet werden, um auch externe Forscherinnen, Praktiker und Unternehmen zur Interaktion mit virtuellen KI-Gemeinschaften einzuladen. Technologische Public-Beta-Versionen sind für Anfang 2026 angekündigt.

Wollen Sie Aivilization weiter mitverfolgen oder selbst in Zukunftssimulationen mit KI-Agenten einsteigen? Diskutieren Sie mit unserer Community und teilen Sie Ihre Perspektiven: Wie möchten Sie mit KI leben – als Werkzeug, Partner oder Mitbürger?

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