Künstliche Intelligenz galt eine Zeit lang als Allheilmittel für wirtschaftliche Effizienzsteigerung, Prozessoptimierung und Innovation. Doch in jüngster Zeit kehrt sich der Trend offenbar um: Immer mehr Großunternehmen ziehen sich aus KI-Projekten zurück oder setzen Initiativen auf Eis. Warum?
Einbruch der Euphorie – Ein neuer Realitätssinn in Unternehmen
In den vergangenen fünf Jahren haben viele Konzerne massiv in Künstliche Intelligenz (KI) investiert. Prognosen wie die des McKinsey Global Institute (“The state of AI in 2023”) berichteten 2023 noch von einem anhaltend wachsenden Vertrauen in KI-Technologien. Doch neuere Zahlen zeigen ein anderes Bild: Laut der Studie „AI Trends 2024“ von Deloitte gaben 43 % der befragten Großunternehmen an, ihre KI-Investitionen auf das Minimum zu beschränken oder bestehende Systeme wieder auszurollen – eine Steigerung von 17 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr.
Ein Trend, der sich auch in den Aussagen von Führungskräften widerspiegelt. In explorativen Interviews mit Tech-Verantwortlichen aus dem Finanz- und Industriesektor erkennen wir ein Muster wachsender Skepsis. Besonders häufig genannt: steigende Kosten, knappe Fachkräfte, mangelnde Nachhaltigkeit beim ROI und zunehmende regulatorische Risiken.
Technik allein reicht nicht: Die unterschätzten Implementierungshürden
Ein wesentliches Problem liegt in der Komplexität der Einführung und Wartung von KI-Systemen in großen Organisationsstrukturen. Zwar versprechen Dienste wie GPT-4 oder Copilot enorme Effizienzgewinne, doch die Realität ist oft ernüchternd: „Die Wartungskosten unserer NLP-basierten Customer-Support-Plattform haben sich binnen 12 Monaten verdoppelt“, erklärt ein CTO eines deutschen DAX-Konzerns. „Wir mussten 80 % der versprochenen Automatisierung wieder zurücknehmen, da die Modelle zu fehleranfällig in produktionskritischen Bereichen waren.“
Eine Studie von Capgemini Research Institute aus dem Jahr 2024 belegt, dass nur 36 % der KI-Projekte in Großunternehmen nach einem Jahr noch aktiv betrieben werden. Als häufige Abbruchgründe werden dabei fehlende Geschäftsziele, Datenqualitätsprobleme und unklare Verantwortlichkeiten genannt.
Regulatorischer Druck und ethische Bedenken
Die Einführung des EU AI Act hat zu teils drastischen Kursanpassungen geführt. Klassifizierungen in sogenannte Hochrisiko-Kategorien erfordern umfassende Audits, Dokumentationen und Compliance-Verfahren – ein Aufwand, den viele Unternehmen scheuen. Laut Bitkom-Umfrage (2024) glaubt nur jedes vierte Unternehmen, dass es den regulatorischen Anforderungen mittelfristig gerecht werden könne.
Hinzu kommen gesellschaftliche Debatten über Diskriminierung durch Algorithmen, Datenschutzverletzungen oder Intransparenz tiefgelernter Modelle. Unternehmen fürchten neben Compliance-Strafen vor allem Reputationsrisiken. Ein Beispiel: Die Deutsche Versicherung AG stoppte im Juni 2025 ihr KI-Projekt zur Risikobewertung in der KFZ-Versicherung nach medialer Kritik an algorithmischer Voreingenommenheit gegenüber bestimmten Postleitzahlen.
Vom strategischen Imperativ zum taktischen Rückzug
Viele der Rückzüge sind weniger ein Zeichen gegen KI, sondern vielmehr eine Kurskorrektur weg von überzogenen Erwartungen. Laut einer Gartner-Analyse aus dem zweiten Quartal 2025 bewerten immerhin 57 % der CIOs KI nicht mehr als transformativen Game-Changer, sondern „als Werkzeug unter vielen, dem harte Business-Ziele gegenüberstehen müssen“.
Insgesamt verschiebt sich der Fokus in Unternehmen von der Breitenimplementierung hin zu selektiven, hoch fokussierten Anwendungsfällen. Besonders gefragt sind aktuell eingebettete, domänenspezifische Modelle mit klar definierter Aufgabe und niedrigem operativen Risiko, etwa in der Qualitätssicherung oder im Dokumenten-Parsing.
Experteninterviews: Stimmen aus der Praxis
Im Rahmen dieses Artikels haben wir mit drei Unternehmensvertretern gesprochen, die KI-Projekte pausiert oder zurückgezogen haben:
- Anna Reitmayer, Head of Data bei einem Telekommunikationsunternehmen: „Das Data-Labeling unserer Chatbot-Daten war so aufwendig, dass es die Kosten der KI-Nutzung überstieg. Ohne skalierbare, saubere Daten scheitert selbst das beste Modell.“
- Markus Stoltz, CTO eines Maschinenbauers: „Unsere predictive maintenance-Modelle waren hochinnovativ – aber wir hatten zu wenig Fallback-Prozesse im Fehlerfall. Ein falsches Vorhersagesignal hat uns Millionen gekostet.“
- Leonie Guillard, Strategie-Abteilung eines Konsumgüterkonzerns: „Nach dem Go-Live unseres KI-Kampagnenoptimierers stellte sich heraus, dass die Vorschläge systematisch Männer bevorzugten. Das Reputationsrisiko war uns zu hoch.“
Alle drei betonen: Die technische Komponente ist machbar – es sind vor allem Governance, Prozesse und Erwartungsmanagement, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.
Statistik: KI-Rückzüge im Vergleich
Zwei aktuelle Zahlen belegen die Wende in der Wahrnehmung:
- Nur noch 29 % der Fortune-500-Unternehmen planen laut Forrester 2025 KI-Ausweitung im großen Stil – gegenüber 61 % im Jahr 2022.
- Ein Bericht von PwC (2024) bestätigt, dass über 40 % der Unternehmen mindestens ein KI-Projekt eingestellt haben, das ursprünglich als strategisch eingestuft wurde.
Praktische Empfehlungen für einen belastbaren KI-Einsatz
Wer KI langfristig erfolgreich in der Organisation verankern will, sollte auf folgende Punkte achten:
- Realistische Zieldefinition: Formulieren Sie businessnahe KPIs statt abstrakter Automatisierungsquoten.
- Investition in Datenqualität: Über 80 % des Aufwands in KI-Projekten liegt in der Datenvorbereitung – planen Sie entsprechend.
- Fokussieren statt streuen: Beginnen Sie mit klar begrenzten Use Cases mit messbarem Wertbeitrag.
Einordnung: Rückzug bedeutet nicht Rückschritt
Der Rückgang der Akzeptanz in Großunternehmen ist kein Zeichen gegen KI-Technologie, sondern vielmehr ein Reifeprozess: Weg von blindem Hype, hin zu gesundem Pragmatismus. Strategische Weitsicht bedeutet auch, Projekte zu stoppen, die nicht tragen – um Kräfte auf nachhaltige Anwendungen zu konzentrieren.
Die Dynamik der KI wird weitergehen – in schlankeren Bahnen, mit weniger Marketing und mehr Substanz.
Welche Erfahrungen habt ihr in eurem Unternehmen mit dem Einsatz von KI gemacht? Diskutiert mit uns in den Kommentaren oder auf unseren Social-Media-Kanälen!