Ab 2025 wird das Reisen in den Schengen-Raum für Drittstaatsangehörige grundlegend verändert: Die Europäische Union ersetzt den klassischen Einreisestempel durch ein hochmodernes elektronisches Ein- und Ausreisesystem (Entry/Exit System, EES). Was Reisende erwartet, wie biometrische Daten verarbeitet werden – und was Datenschützer daran kritisieren.
Das neue EES: Ein Überblick über den digitalen Grenzschutz
Im Zuge der Umsetzung der EU-Verordnung 2017/2226 wird das neue Entry/Exit System (EES) eingeführt – ein automatisiertes IT-System, das die Ein- und Ausreise von Staatsangehörigen aus Nicht-EU-Ländern in den Schengen-Raum digital erfasst. Ziel ist es, die Kontrolle über Einreise- und Aufenthaltsdauern zu verbessern, Mehrfacheinreisen effizient zu überwachen und sogenannte Overstayer leichter identifizieren zu können.
Das EES ersetzt zukünftig den manuellen Einreisestempel im Pass. Stattdessen werden bei jeder Grenzpassage biometrische Daten wie Fingerabdrücke (vier Finger) und ein Gesichtsscan sowie personenbezogene Informationen wie Name, Reisedokument-Nummer und Zeitpunkt des Grenzübertritts elektronisch übermittelt und zentral gespeichert.
Implementierung und Zeitplan
Die Einführung des EES wurde mehrfach verschoben. Ursprünglich für 2022 geplant, wurde der Start nach Angaben der EU-Agentur eu-LISA aufgrund technischer Komplexität und mangelnder Vorbereitungszeit zuletzt auf Ende 2024 bzw. Anfang 2025 terminiert. Alle 27 EU-Mitgliedstaaten des Schengen-Raumes, Island, Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein bereiten derzeit die nationale Implementierung vor.
Reisende aus mehr als 60 Ländern – darunter die USA, Japan, Brasilien und Großbritannien – werden bei Einreisen in den Schengen-Raum künftig verpflichtend biometrisch erfasst. Geschäftsleute, Touristen oder Transitpassagiere im Flughafentransit sind gleichermaßen betroffen.
Biometrische Technologien im Einsatz
Herzstück des EES ist der Einsatz modernster biometrischer Identifikationstechnologien:
- Ein Gesichtserkennungssystem erfasst hochaufgelöste Bilder zur eindeutigen Identifikation.
- Ein automatisiertes Fingerabdrucksystem analysiert vier Finger der betreffenden Person.
- Optimierte Matching-Algorithmen gleichen neue Datensätze gegen bereits bestehende aus.
Nach Angaben von Frontex und eu-LISA sollen die Systeme unter Einsatz von KI-basierter Bildverarbeitung selbst unter schwierigen Lichtverhältnissen oder bei Teilverdeckung verlässliche Ergebnisse liefern. Die biometrische Datenverarbeitung erfolgt dabei laut offizieller EU-Dokumentation unter hohen Sicherheitsstandards mit AES-256-Verschlüsselung, Unterteilung in dezentrale und zentrale Datenhaltung sowie kontrollierten Zugriffsrechten.
Datenschutz und rechtliche Bedenken
Doch genau hier entzündet sich die Kritik. Der Europäische Datenschutzbeauftragte (EDSB) sowie zivilgesellschaftliche Organisationen wie Statewatch und European Digital Rights (EDRi) sehen im EES potenzielle Gefahren für die informationelle Selbstbestimmung.
Das System speichert personenbezogene und biometrische Daten von Millionen Menschen bis zu drei Jahre lang. Im Falle von Overstay-Verstößen sogar bis zu fünf Jahre. Kritiker befürchten eine Verletzung der Zweckbindungsregel, unzulängliche Aufsicht sowie unklare Modalitäten zur Datenweitergabe etwa an Strafverfolgungsbehörden.
In einem EDSB-Bericht von 2022 wird zudem bemängelt, dass die Zweckänderung der ursprünglichen Datenverarbeitung zu Sicherheitszwecken nicht klar transparent geregelt sei – ein Verstoß gegen Artikel 5 der DSGVO.
Systemvernetzung mit anderen Datenbanken
Die Komplexität des Systems wird durch seine Integration mit weiteren EU-Sicherheitsdatenbanken wie dem Visa-Informationssystem (VIS), dem Schengener Informationssystem (SIS), dem Europäischen Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS) und der Eurodac-Datenbank zur Asylbewerberidentifikation erhöht.
Die sogenannte Interoperabilität dieser Datennetze stellt laut einem Bericht des Europäischen Rechnungshofs von 2023 eine „beträchtliche logistische, technische und datenschutzrechtliche Herausforderung“ dar. Besonders sensibel ist hierbei der sogenannte „gemeinsame Biometrie-Abgleichdienst“ (Shared Biometric Matching Service – sBMS), der auf bis zu 400 Millionen Datensätze zugreifen soll.
Die EU-Agentur eu-LISA betont, dass der Zugriff nur berechtigten Behörden nach dem „Need-to-Know“-Prinzip gewährt werde. Dennoch bleiben Zweifel bestehen, wie effektiv Datenschutzverletzungen technisch und organisatorisch verhindert werden können.
Aktuelle Faktenlage: Statistische Daten zum EES
Nach Angaben des Schengen-Visa-Statistikdienstes wurden im Jahr 2023 rund 292 Millionen Grenzübertritte von Drittstaatsangehörigen im Schengen-Raum registriert. Das EES muss also Hunderttausende Transaktionen pro Tag zuverlässig verarbeiten können.
Laut einer Studie von Europol aus dem Jahr 2024 könnten durch das EES jährlich bis zu 10.000 Fälle illegaler Aufenthalte schneller identifiziert werden – eine Effizienzsteigerung in der Migrationskontrolle um über 35 % im Vergleich zum Ist-Zustand.
Die Systemarchitektur wurde in über 20 Großtests an Außengrenzen, darunter in Frankfurt/Main, Paris-Charles-de-Gaulle und Warschau, unter realitätsnahen Bedingungen erprobt.
Reiseverbände warnen jedoch vor möglichen Verzögerungen bei hohem Passagieraufkommen, etwa in Ferienzeiten oder an Flughäfen mit hohem Interkontinentalverkehr. Selbst bei automatisierter Bordkartenkontrolle sei mit Mehrzeiten von 30 bis 60 Sekunden pro Passagier zu rechnen.
Tipps für Reisende: So gelingt der Übergang
Wer in Zukunft in den Schengen-Raum reisen möchte, sollte sich frühzeitig auf die neuen Verfahren einstellen. Folgende Tipps helfen bei einer reibungslosen Einreise:
- Information vorab einholen: Reisende sollten sich auf den offiziellen Seiten der EU (z. B. eu-ees.europa.eu) über geltende Anforderungen informieren.
- Pre-Registration prüfen: Einige Grenzstationen bieten Pre-Registration-Optionen oder Self-Service-Kiosks zur Zeitersparnis an.
- Datenschutzrechte wahrnehmen: Wer wissen möchte, welche Daten verarbeitet werden, sollte seine Auskunftsrechte nach DSGVO Artikel 15 in Anspruch nehmen.
Herausforderungen für Behörden und Betreiber
Neben Datenschutzüberlegungen stehen auch logistische und personelle Fragen im Raum. Viele Mitgliedstaaten berichten von mangelnder technischer Ausstattung an kleineren Grenzübergängen, fehlenden qualifizierten IT-Fachkräften oder Unklarheiten zur Zuständigkeit einzelner Behördenbereiche.
Der Bundespolizei in Deutschland zufolge fehlen allein im Jahr 2024 über 500 Top-qualifizierte Biometrie-Experten zur vollständigen Umsetzung an allen Außengrenzen. Auch das System der IT-Wartung über europaweit verteilte Datenzentren (Stichwort: Geo-Redundanz) stellt Betreiber wie eu-LISA und Frontex vor große Herausforderungen.
Für Airlines, Fährgesellschaften und Busunternehmen ergeben sich neue Pflichten zur Vorabprüfung, etwa durch ETIAS oder die Validierung biometrischer Daten beim Boarding. Nicht alle Unternehmen sind darauf vorbereitet. Die International Air Transport Association (IATA) forderte daher im Mai 2024 eine Verlängerung der Einführungsfrist um mindestens sechs Monate.
Blick in die Zukunft: Automatisierte Migration oder neue Hürden?
Die Automatisierung der Grenzkontrollen durch Systeme wie das EES markiert einen Paradigmenwechsel. Digitale Überwachung ersetzt zunehmend den menschlichen Faktor – mit allen Chancen und Risiken.
Im besten Fall führt das EES zu schnelleren, sichereren Grenzprozessen bei gleichzeitiger Entlastung der Behörden und besserer Einhaltung migrationsrechtlicher Vorgaben. Im schlechtesten Fall werden Mobilität, Datenschutz und Rechtssicherheit durch technische Intransparenz und Überforderung der Betroffenen eingeschränkt.
Europa steht hier am Scheideweg – zwischen dem legitimen Wunsch nach Sicherheit und den Grundrechten auf Privatsphäre und Bewegungsfreiheit.
Was denken Sie: Ist das neue EES ein Fortschritt oder ein digitaler Rückschritt? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren und teilen Sie Ihre Erfahrungen mit der neuen Einreisekontrolle.




