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Internationale Forschung in Zeiten geopolitischer Instabilität: ITER als Vorbild?

Ein heller, sonnendurchfluteter Konferenzraum mit globalen Forschern vielfältiger Herkunft in regem Austausch vor einem großflächigen Panoramafenster, das sanft das futuristische ITER-Fusionsreaktor-Modell im Südfrankreich zeigt – eine warme Atmosphäre von Kompetenz, Vertrauen und internationaler Zusammenarbeit trotz geopolitischer Herausforderungen.

Geopolitische Spannungen prägen die Weltlage wie selten zuvor – und doch gibt es Inseln bemerkenswerter Zusammenarbeit. ITER, das ambitionierte Fusionsforschungsprojekt in Südfrankreich, demonstriert eindrucksvoll, wie internationale Kooperation auch in konfliktgeladenen Zeiten funktionieren kann. Welche Lehren lassen sich daraus für künftige globale Forschungsinitiativen ziehen?

ITER: Forschung an der Schwelle zum Energierevolutionsprojekt

ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor) ist eines der ambitioniertesten wissenschaftlichen Großprojekte unserer Zeit. Ziel ist die Entwicklung eines funktionierenden Fusionsreaktors – mit der Hoffnung auf eine nahezu unbegrenzte, saubere Energiequelle. Das Projekt vereint 35 Nationen, darunter die EU-Mitgliedstaaten, die USA, China, Russland, Japan, Indien und Südkorea. Trotz massiver politischer Differenzen unter den Beteiligten wurde und wird – wenn auch mit Verzögerungen – weitergebaut.

Das Herzstück von ITER ist der Tokamak-Reaktor, der mit Hilfe von Magnetfeldern ein extrem heißes Plasma einschließt, um Wasserstoffkerne mittels Kernfusion zu verschmelzen. Der theoretische Energiegewinn im Vergleich zur eingespeisten Energie liegt laut Projektplan bei einem Faktor von 10. Der erste Plasmabetrieb ist aktuell für 2025 geplant, wobei das vollständige Hochfahren zu vollem Betrieb (‚Deuterium-Tritium-Betrieb‘) laut jüngsten Planungen um 2035 angesetzt ist (Quelle: ITER.org).

Geopolitische Herausforderungen: Wissenschaft versus Diplomatie

Dass ITER trotz geopolitischer Konflikte – etwa zwischen den USA und China oder infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine – weiterläuft, liegt an der einzigartigen, multilateralen Projektstruktur. Die Kooperation erfolgt nicht über klassische internationale Organisationen, sondern über ein Joint Implementation Modell. Jeder Partner übernimmt definierte Komponenten des Reaktors und verantwortet deren Bau – aufgeteilt nach finanziellen und technischen Beiträgen.

Die Auswirkungen politischer Spannungen sind jedoch spürbar: Einige Komponentenlieferungen Russlands wurden im Laufe des Ukraine-Konflikts durch alternative Partner umgesetzt oder verzögerten sich. Ebenso wurden bestimmte US-Beiträge zeitweise aus Budgetgründen eingefroren. Dennoch blieb das Projekt bislang funktional – aus wissenschaftlicher und politischer Perspektive ein bemerkenswerter Erfolg.

Finanzierung und Koordination: Komplexität als Risiko

Ein erheblicher Stolperstein für globale Forschungsprojekte ist die Finanzierung. ITER war ursprünglich mit einem Budget von rund 5 Milliarden Euro veranschlagt; aktuelle Schätzungen von Fachmedien und dem Europäischen Rechnungshof beziffern die Gesamtkosten inzwischen auf über 22 Milliarden Euro bis zum Jahr 2035. Diese Verteuerung ist auf technische Komplexität, Verzögerungen und zunehmende Abstimmungsprobleme zurückzuführen (Quelle: Europäischer Rechnungshof, 2022).

Ein zentrales learning aus ITER: Die langfristige Finanzierung muss über den gesamten Projektzeitraum hinweg politisch abgesichert sein. Haushaltskürzungen oder Änderung politischer Prioritäten – wie beispielsweise unter der Trump-Administration in den USA – bedrohen Großprojekte erheblich.

Was andere Projekte von ITER lernen können

ITER ist nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein diplomatisches Experiment. Was können andere internationale Forschungsallianzen, etwa im Bereich der Klima- oder Pandemiebekämpfung, daraus ableiten?

  • Interdependenz als Strategie: Durch die klare Aufgabenteilung muss jedes Land liefern, damit das Gesamtsystem funktioniert. Diese technische Interdependenz fördert produktive Kooperation.
  • Technik statt Politik: Die Kommunikation bei ITER erfolgt auf Arbeitsebene – Forscher, Ingenieure und Projektmanager stimmen sich direkt ab, unabhängig von außenpolitischen Ereignissen.
  • Wissenschaftliche Governance stärken: Entscheidungen werden am ITER-Council getroffen, in dem alle Partner gleichberechtigt vertreten sind. Diese flache Struktur vermeidet politisch dominierte Entscheidungsprozesse.

Globale Forschung in Zeiten multipolarer Weltordnungen

Dass Projekte wie ITER funktionieren, obwohl sich die Welt in zunehmendem Maße zu einer multipolaren Ordnung mit unklaren Allianzen entwickelt, ist kein Zufall. Wissenschaftliche Großprojekte profitieren von langfristiger Orientierung, klaren gemeinsamen Zielen und einer gewissen Immunität gegenüber tagespolitischen Spannungen – zumindest dann, wenn Governance-Strukturen gut gewählt sind. Laut UNESCO stieg das weltweite Budget in Forschung & Entwicklung trotz globaler Krisen von 1,7 auf 2,4 Billionen USD zwischen 2014 und 2022 (UNESCO Science Report 2023).

Doch Wissenschaft ist nie vollständig unabhängig. Der jüngste Ausschluss Russlands von mehreren wissenschaftlichen Netzwerken etwa in der Arktisforschung sowie NFTs von Kooperationsvereinbarungen mit Iran oder Nordkorea zeigen die Fragilität internationaler Dialoge. Impfstoffentwicklung zu COVID-19 wurde teilweise durch nationalistische Agenden blockiert – der gegenteilige Fall zu ITER.

Fusionsvision als Katalysator internationaler Einigkeit?

ITER zeigt: Wenn das Ziel groß genug ist – in diesem Fall die Dekarbonisierung der Energieerzeugung mittels Kernfusion – lässt sich auch politische Gegnerschaft überbrücken. Das Projekt lebt vom „Zukunftsversprechen“. Die Aussicht, mit Fusionsenergie den globalen Energiebedarf klimaneutral zu decken, motiviert die Beteiligten auf verschiedenen Regierungsebenen zur Kooperation.

Interessanterweise ist dies auch auf privater Ebene sichtbar: Firmen wie TAE Technologies (USA), Tokamak Energy (UK), oder Helion Energy (USA) treiben die Fusion autonom voran, aber in engem Austausch – teils personell, teils technologisch – mit ITER-Strukturen. Eine aktuelle Marktanalyse zeigt, dass der weltweite Investitionsfluss in private Fusionsunternehmen 2023 über 6 Mrd. USD erreicht hat (Quelle: Fusion Industry Association, 2023).

Handlungsempfehlungen für globale Kooperationsprojekte

Damit künftige internationale Großprojekte erfolgreich verlaufen, müssen sie aus ITERs Stärken und Schwächen lernen. Die folgenden Handlungsempfehlungen lassen sich daraus ableiten:

  • Redundante Lieferketten aufbauen: Politische Risiken können durch alternative Bezugsquellen und Modulaustausch abgefedert werden.
  • Globale Governance modellieren: Ein Joint Implementation Modell wie bei ITER kann politische Reibung minimieren – bedarf aber starker Steuerungsinstanzen.
  • Langfristige Finanzierungszusagen institutionalisieren: Multinationale Wissenschaftskonsortien sollten durch völkerrechtlich bindende Mittelzusagen abgesichert sein.

Fazit: Wissenschaft als Brücke – mit Grenzen

ITER ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie internationale Forschung auch in geopolitisch instabilen Zeiten gelingen kann. Die Kombination aus klarer technischer Struktur, verbindlicher Governance und ambitioniertem Ziel hat dieses Mammutprojekt bisher vor dem Zerfall bewahrt – trotz globaler Vertrauenskrisen. Doch das Modell ist nicht beliebig übertragbar. Größere politische Abgründe oder asymmetrische Ressourcen können jede Kooperation aus dem Gleichgewicht bringen.

Für alle, die an transnationaler Zusammenarbeit arbeiten – ob in Energie, Klima oder Gesundheit – bietet ITER dennoch wichtige Lehren. Wissenschaft braucht nicht nur Fakten, sondern auch Vertrauen. Und genau dieses Vertrauen entsteht, wenn gemeinsame Missionen echte Win-Win-Perspektiven bieten.

Was denkt ihr? Ist ITER ein Ausnahmefall – oder ein Modell mit Zukunft? Diskutiert mit uns in den Kommentaren oder teilt eure Erfahrungen mit internationalen Projekten unter dem Hashtag #TechCollaboration!

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