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ITER und die Zukunft der Kernfusion: Internationale Kooperation in Krisenzeiten

Eine dynamische Aufnahme eines internationalen Forscherteams in moderner Laborumgebung, das bei sonnendurchfluteten, warmen Lichtverhältnissen konzentriert an großen, komplexen Magnetkomponenten für den Fusionsreaktor arbeitet und so die Hoffnung auf saubere Energie durch globale Zusammenarbeit in herausfordernden Zeiten symbolisiert.

Der Traum von nahezu unbegrenzter, sauberer Energie rückt näher: Mit der vollständigen Lieferung der zentralen Magnetkomponenten erreicht das ITER-Projekt einen bedeutenden Meilenstein. Doch technologische Durchbrüche allein genügen nicht – in bewegten geopolitischen Zeiten ist internationale Kooperation die eigentliche Herausforderung.

ITER: Ein Megaprojekt als Hoffnungsträger der Energiezukunft

ITER – kurz für International Thermonuclear Experimental Reactor – gilt als das derzeit ambitionierteste Projekt zur friedlichen Nutzung der Kernfusion. In Cadarache, Südfrankreich, entsteht seit 2007 ein Prototyp für ein Fusionskraftwerk, das ab den 2030er Jahren demonstrieren soll, dass kontrollierte Kernverschmelzung als saubere Energiequelle taugt. Dabei werden Deuterium und Tritium unter extremen Bedingungen zu Helium verschmolzen – ein Prozess, der im Kern der Sonne abläuft. Die dabei frei werdende Energie ließe sich in Elektrizität umwandeln, ganz ohne CO₂-Emissionen oder langlebigen Atommüll.

Mit der im August 2025 abgeschlossenen Lieferung der zentralen supraleitenden Magnetkomponenten – darunter die toroidalen Feldmagnete aus Europa und Japan sowie die zentralen Solenoid-Bauteile aus den USA – tritt ITER in seine entscheidende Bauphase. Diese riesigen Bauteile, teilweise bis zu 17 Meter hoch und über 300 Tonnen schwer, steuern die Plasmakonfiguration innerhalb des Tokamaks und sind essenziell für den sicheren Betrieb bei über 150 Millionen Grad Celsius.

„Die Lieferung aller Magnetkomponenten zeigt eindrucksvoll, wie globale Zusammenarbeit auch in angespannten Zeiten möglich ist“, erklärt Bernard Bigot, ehemaliger Generaldirektor von ITER, posthum zitiert aus einem früheren Interview. Sein Nachfolger Pietro Barabaschi ergänzt im neuesten Bericht der ITER-Organisation: „Der technische Fortschritt ist nur dann etwas wert, wenn er durch dauerhafte Kooperation getragen wird.“

Globale Zusammenarbeit trotz geopolitischer Spannungen

ITER ist ein multinationales Forschungsprojekt mit 35 beteiligten Nationen, darunter die EU-Staaten, USA, Russland, China, Indien, Japan und Südkorea. Gemeinsam stemmen sie die technische Entwicklung, das Know-how und die Finanzierung. Das Volumen beläuft sich mittlerweile auf rund 25 Milliarden Euro – eine Verdreifachung gegenüber der Erstkalkulation, die auf die extreme Komplexität und Inflationseffekte zurückzuführen ist.

Besonders in Zeiten internationaler Spannungen – etwa nach dem russischen Angriff auf die Ukraine oder im Kontext zunehmender Handelskonflikte – wird diese globale Zusammenarbeit einem Belastungstest unterzogen. ITER zeigt jedoch, dass wissenschaftliche Diplomatie funktioniert. Trotz westlicher Sanktionen gegen Russland wird das russische Team weiter in das Projekt eingebunden. Offiziell heißt es von Seiten der ITER-Organisation: „Der wissenschaftliche Austausch erfolgt im Rahmen der bestehenden Verträge und auf rein technischer Ebene.“

Ein Schlüssel zum Erfolg ist dabei die vertraglich abgesicherte Struktur des Projektes: Jeder Partner liefert spezifische Komponenten – ein System, das wechselseitige Abhängigkeiten schafft. So kann das Projekt nur gelingen, wenn alle kooperieren. Dieses Modell gilt inzwischen als Paradebeispiel für sogenannte „Transnational Mega Science Projects“.

Technologische Fortschritte: Von Supraleitern bis Plasmakontrolle

Der technische Fortschritt bei ITER ist gewaltig. Allein die Herstellung der 18 toroidalen Supraleitermagnete – jedes größer als ein Doppelstockbus – erforderte neue Fertigungsprozesse und Materialien auf Niob-Zinn-Basis. Europäische Hersteller wie ASG Superconductors und französische Unternehmen wie CNIM waren maßgeblich beteiligt. Die Toleranzgrenzen betrugen teils unter 1 Millimeter, bei Baueinheiten von mehreren Metern Durchmesser.

Auch die Plasmakompression und -stabilisation ist ein technologisches Hochrisikofeld. Hier kommen Echtzeit-Steuerungen mit Sub-Millisekunden-Latenzen zum Einsatz, betrieben durch spezielle FPGA-basierte Steuerungssysteme. Die dafür notwendige Software wird in einer länderübergreifenden Allianz entwickelt – unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Garching und des koreanischen Fusion Research Institute KFE.

Laut dem World Energy Outlook 2024 der Internationalen Energieagentur (IEA) könnten Fusionsreaktoren ab den 2050er Jahren einen signifikanten Anteil an der globalen Energieversorgung leisten, vorausgesetzt, Projekte wie ITER verlaufen erfolgreich. Die Agentur geht im ambitioniertesten Szenario davon aus, dass bis 2070 etwa 10–15 % des weltweiten Stroms aus Fusion stammen könnten.

Widerstände und offene Fragen

Trotz aller Fortschritte bleibt ITER ein riskanter Kraftakt. Kritiker mahnen, dass konkrete Stromproduktion erst lange nach dem tatsächlichen Projektende (aktuell geplant: 2035) denkbar sei. Hinzu kommt die ungesicherte Einführung von Tritium-Kreisläufen – ein teueres und stark radioaktives Isotop, dessen Gewinnung und Recycling noch unklar ist.

Auch aus politischer Sicht gibt es Stolpersteine: So könnte ein Rückzug der USA unter einem künftigen Regierungswechsel schwerwiegende Folgen haben, da ein signifikanter Anteil des Magnetbudgets aus den Vereinigten Staaten stammt. Ebenso ist Chinas technologische Unabhängigkeitspolitik („Fusion Energy Independence by Mid-Century“) ein potenzieller Risikofaktor für das Kollektivmodell von ITER.

ITER reagiert jedoch aktiv auf diese Unsicherheiten: Neben neuen Kooperationsabkommen mit Privatunternehmen, etwa dem britischen Fusionsstartup Tokamak Energy, wird auch an modularen Ansätzen gedacht. Kleine, regionale Fusionsprototypen – sogenannte DEMO-Facilities – sollen ab den 2040ern wichtige Erfolgsdaten liefern, bevor großflächige Kraftwerke weltweit folgen.

Einige praktische Empfehlungen für Technologieentscheider, die sich mit dem Thema Fusion beschäftigen:

  • Beobachten Sie aktiv Startups im Bereich Magnet- und Hochtemperatur-Supraleitertechnologien – hier entstehen Schlüsselinnovationen mit Transferpotential für andere Industrien (z. B. Medizintechnik, Energiespeicherung).
  • Verfolgen Sie Förderanträge im Rahmen internationaler Forschungsprogramme, z. B. Horizon Europe oder ITER-PA, um früh von industrieller Beteiligung zu profitieren.
  • Investieren Sie in Schulungsinitiativen für Plasmaphysik, Steuerungstechnik und Materialentwicklung im universitären Umfeld – der Bedarf an hochqualifizierten Kräften wird exponentiell steigen.

Angesichts dieser Dynamik bleibt ITER nicht nur ein technisches, sondern vor allem ein diplomatisches Meisterstück.

Fusionsforschung als Innovationsmotor – auch für andere Branchen

Was oft übersehen wird: Die ITER-Forschung hat bereits jetzt vielfältige technologische Nebeneffekte. Supraleiterforschung befeuert Fortschritte in der Medizintechnik (z. B. bei MRT-Spulen), hochleistungsfähige Wärmetauscher aus der Plasmatechnik finden Eingang in die Luft- und Raumfahrt. Auch bei Big Data spielt ITER eine Rolle – die Verarbeitung der über 50 Terabyte an Daten pro Sekunde, die während der Fusionsversuche entstehen, treibt neue Entwicklungen im High Performance Computing (HPC) und Machine Learning an.

Schon 2023 warnte eine Studie von Fusion Industry Association, dass ohne technologische Querschnittsinvestitionen der Transfer in andere Industrien gefährdet sei – ein Appell, der heute dringender ist denn je. Besonders europäische Zulieferer müssen sich aktiv um Patentschutz und wirtschaftliche Umsetzung bemühen, um von ITER auch ökonomisch zu profitieren.

Aktuell laufen laut BloombergNEF weltweit über 40 privatwirtschaftliche Fusionsprojekte, wovon 11 mit ITER kooperieren – ein positives Signal für die Sektorökonomie. Gleichzeitig betonen Experten wie Dr. Melanie Windridge von Fusion Energy Insights, dass „nur mit belastbarer internationaler Standardisierung ein globaler Markt entstehen kann.“

Fazit: Ein Funke Hoffnung in krisenhaften Zeiten

ITER bleibt ein Leuchtturmprojekt für wissenschaftlichen Fortschritt, internationale Zusammenarbeit und technologischen Mut. Der jüngste Meilenstein – die Lieferung aller zentralen Magnetteile – ist mehr als ein logistischer Erfolg: Er ist Ausdruck der kollektiven Überzeugung, dass eine saubere Energiewende nur gemeinsam gelingen kann.

In einer Welt voller Unsicherheit liefert ITER einen beeindruckenden Gegenentwurf: Kooperation statt Konfrontation. Technik überwindet Grenzen – wenn sie richtig organisiert ist.

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