Europa will digital souveräner werden – doch stehen nationale Technologieplattformen dieser Vision im Weg oder ebnen sie erst den Weg zu gemeinsamen Standards? Der Deutschland-Stack etwa sorgt für Diskussionen. Dieser Artikel wirft einen tiefen Blick auf Chancen, Risiken und politische Weichenstellungen.
Die digitale Souveränität Europas – ein erklärtes Ziel der EU
Die Europäische Union verfolgt seit Jahren das Ziel, die digitale Souveränität zu stärken. Mit Initiativen wie dem European Digital Strategy Package, GAIA-X oder dem Digital Services Act (DSA) will Brüssel technologische Abhängigkeiten reduzieren und europäische Standards setzen. In diesem Kontext erwächst unter anderem in Deutschland der „Deutschland-Stack“: eine nationale Technologieplattform, die Komponenten für digitale Verwaltung, Cloud und Dateninfrastruktur vereint.
Doch nicht jeder begrüßt diesen Alleingang. Während einige eine Blaupause für ganz Europa sehen, warnen andere vor der Fragmentierung. Welche Auswirkungen haben solche nationalen Plattformen – fördern sie europäischen Zusammenhalt oder konterkarieren sie ihn ungewollt?
Was ist der Deutschland-Stack?
Der „Deutschland-Stack“ ist eine vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) geförderte Initiative, die zentrale technologische Bausteine für die digitale Daseinsvorsorge bündeln soll. Er umfasst Open-Source-Komponenten für Identitätsmanagement, Cloud-Infrastruktur, Dateninteroperabilität und Prozessdigitalisierung. Ziel ist es, der öffentlichen Verwaltung bundesweit modulare, wiederverwendbare und vertrauenswürdige digitale Lösungen bereitzustellen – als Alternative zu proprietären Plattformen großer US-Anbieter.
Der Stack fußt auf Prinzipien wie Offenheit, Interoperabilität und Datensouveränität. Er wird unter anderem getragen von Projekten wie „Sovereign Cloud Stack“, „Phoenix“ (Open-Source-Arbeitsplatz) und „Elster“ (für Steuerdaten). Viele dieser Komponenten speisen sich aus der Open Source Strategy des Bundes.
Dabei steht Deutschland keineswegs allein. Auch Frankreich verfolgt mit „Cloud de confiance“ nationale Cloud-Infrastrukturen, Finnland fördert dezentrale Datenplattformen und Estland gilt mit seinem digitalen Bürgerstaat schon lange als Vorreiter.
Chancen durch nationale Plattformen – ein europäisches Mosaik?
Der Ansatz, nationale Plattformen zu schaffen, kann als pragmatische Antwort auf die heterogene öffentliche IT-Landschaft gesehen werden. Unterschiedliche Verwaltungsstrukturen, Datenschutzanforderungen und Sprachen machen eine „One-size-fits-all“-Lösung in Europa schwierig. Stattdessen könnte ein Mosaik kompatibler Komponenten entstehen – abgestimmt über gemeinsame Standards.
Mit Plattformen wie GAIA-X wurde versucht, eine europäische Dateninfrastruktur grenzüberschreitend zu konzipieren. Doch die Umsetzung verläuft schleppend. Nationale Initiativen wie der Deutschland-Stack könnten diesen Prozess unterstützen, indem sie erprobte Module zuliefern oder als Testfeld fungieren. Voraussetzung ist jedoch, dass Kompatibilität und Anschlussfähigkeit europäisch mitgedacht werden.
Ein Versäumnis hier könnte allerdings zu digitalen Inseln führen – mit gravierenden Folgen für den Binnenmarkt.
Risiken der Fragmentierung: Frankreich, Deutschland, Finnland auf eigenen Pfaden?
Während manche nationale Plattformen auf Open Standards setzen, droht andernorts ein Rückfall in proprietäre Lösungen oder Inkompatibilitäten. So warnt die European Digital SME Alliance 2024 in ihrem Bericht „Avoiding Digital Balkanisation in Europe“ vor dem Entstehen inkompatibler nationaler Ökosysteme, wenn technologische Souveränität nur national gedacht wird.
Eine zentrale Sorge: Wenn Mitgliedstaaten eigene Technologien ohne Koordination entwickeln, könnte das zu doppelten Entwicklungsaufwänden, höheren Kosten und einem Flickenteppich digitaler Dienste führen. Laut einer Untersuchung der EU-Kommission (2023) liegt der geschätzte wirtschaftliche Verlust durch fehlende Interoperabilität im öffentlichen Sektor bei über 36 Milliarden Euro jährlich.
Statistik 1: Laut Eurostat (2024) nutzen nur 34 % der Verwaltungen in Europa standardisierte APIs zur Datenübertragung über Landesgrenzen hinweg.
Statistik 2: Die EU-Kommission zeigt in ihrem Digital Economy and Society Index (DESI) 2024, dass 41 % der Unternehmen Interoperabilitätsprobleme bei der Zusammenarbeit mit Behörden aus anderen EU-Ländern melden – eine Steigerung von 6 Prozentpunkten im Vergleich zu 2022.
Besonders kritisch dürften dissonante Identitätssysteme sein. Während Deutschland auf BundID und eID setzt, arbeitet Frankreich an alternativen Trust-Solutions. Die Estnische eID wiederum basiert auf einem vollständig eigenen System.
Plattformkompatibilität als Schlüssel: Harmonisierung durch offene Standards
Ein entscheidender Lösungsansatz liegt in der Erarbeitung und Durchsetzung gemeinsamer Standards durch die EU. Die Open Source Observatory Study (OSOR) der EU von 2023 betont, dass Standardisierung und Open-Source-Prinzipien essenziell sind, um digitale Souveränität mit Interoperabilität zu verbinden.
Projekte wie das Interoperable Europe Act (im Trilogabschluss 2025) sollen genau diese Hürden adressieren. Sie verpflichten nationale Plattformen, auf offene technische Spezifikationen zu setzen. Damit könnten Initiativen wie der Deutschland-Stack nicht zur Konkurrenz, sondern zur Blaupause für interoperable Lösungen werden.
Entscheidend ist also weniger der nationale Ursprung – sondern die Anschlussfähigkeit. So forderte jüngst auch der ThinkTank Stiftung Neue Verantwortung (2024), dass europäische Digitalstrategien Koordinierung, nicht Zentralisierung ins Zentrum stellen müssen.
Praxistipp zur Harmonisierung digitaler Plattformprojekte:
- Setzen Sie bei neuen Verwaltungsprojekten strikt auf offene Schnittstellen und dokumentierte APIs nach EU-Standards.
- Beteiligen Sie sich aktiv an europäischen Standardisierungsgremien wie CEF Digital oder dem Open Forum Europe.
- Führen Sie regelmäßig Interoperabilitätsaudits durch, um die Anschlussfähigkeit nationaler Komponenten zu validieren.
Best Practices: Was andere europäische Staaten vormachen
Einige Länder demonstrieren erfolgreich, wie nationale Plattformen europäisch anschlussfähig gedacht werden können:
Estland: Die eGovernance-Plattform X-Road ist Open Source und wird mittlerweile von mehreren Staaten adaptiert, darunter Finnland und Island.
Frankreich: Die Cloud-de-Confiance-Initiative verpflichtet Anbieter zur DSGVO-Konformität und öffnet sich EU-Standards, um grenzüberschreitende Nutzung zu ermöglichen.
Italien: Das nationale digitale Identitätsprojekt SPID ist seit 2024 mit der neuen Europäischen Digitalen Identität (EUDI Wallet) kompatibel.
Diese Fallbeispiele zeigen: Nationale Plattformen und europäische Integration schließen sich nicht aus – wenn sie kooperativ entwickelt werden.
Fazit: Kooperation als strategisches Erfolgsmodell
Technologieplattformen wie der Deutschland-Stack müssen kein Hindernis für die europäische Digitalisierung sein – im Gegenteil: Richtig konzipiert, können sie stabile, skalierbare Module für eine gemeinsame digitale Infrastruktur liefern. Die Voraussetzung ist allerdings, Interoperabilität und offene Standards von Beginn an mitzudenken.
Die EU kann mit gezielter Regulierung, Förderrichtlinien und Standardisierungsprozessen die Koordinierung sicherstellen. Gleichzeitig sind nationale Regierungen gefordert, in europäischen Maßstäben zu denken.
Abschließend stellen sich zentrale Fragen: Wollen wir ein Europa digitaler Inseln oder ein vernetztes Ökosystem mit föderal integrierten Plattformen? Die Antwort darauf beginnt mit jeder einzelnen digitalen Entscheidung auf nationaler Ebene.
Diskutieren Sie mit: Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Organisation mit nationalen oder europäischen Technologieplattformen gemacht? Wir freuen uns auf Ihre Einsendungen und Kommentare!




