Die geplante EU-Verordnung zur Chatkontrolle spaltet Öffentlichkeit und Fachwelt. Während Befürworter mehr Kinderschutz versprechen, warnen Kritiker vor einem massiven Eingriff in die digitale Privatsphäre. Was bedeuten die Regelungen konkret für Anbieter und Nutzer?
Was ist die Chatkontrolle und warum wird sie eingeführt?
Mit der geplanten „Verordnung zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“, die häufig unter dem Schlagwort „Chatkontrolle“ diskutiert wird, will die EU-Kommission digitale Kommunikation gezielt durchsuchen lassen. Ziel ist es, die Verbreitung von Darstellungen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger (sogenanntes CSAM – Child Sexual Abuse Material) effektiver zu bekämpfen.
Die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson betont, dass freiwillige Maßnahmen der Plattformen wie bei Meta oder Google nicht genügen. Laut einem Bericht von EUROPOL wurden 2023 in Europa über 30 Millionen Hinweise auf CSAM gemeldet – ein besorgniserregender Anstieg gegenüber den 22 Millionen im Jahr 2021 (EUROPOL, 2024).
Die neue Verordnung sieht vor, dass Kommunikationsdienste wie Messenger-Apps (z. B. WhatsApp, Signal), soziale Netzwerke und E-Mail-Anbieter systematisch nach bekannten und unbekannten Missbrauchsdarstellungen sowie verdächtigen Verhalten durchsucht werden – auch in Ende-zu-Ende-verschlüsselten Chats.
Wie funktioniert die geplante Technologie zum Scannen von Inhalten?
Die sogenannte clientseitige Scantechnologie (Client-Side Scanning, CSS) soll bereits auf dem Endgerät der Nutzer Inhalte analysieren – vor ihrer Verschlüsselung. Mittels KI-gestützter Mustererkennung und hashbasierter Datenabgleiche können potenziell illegale Inhalte identifiziert und zur Überprüfung weitergeleitet werden.
Ein Beispiel für eine solche umstrittene Technologie war das von Apple 2021 angekündigte CSAM-Scanning, das jedoch nach massiver Kritik zurückgezogen wurde.
Das Problem: Auch gut trainierte Algorithmen produzieren Fehlalarme (False Positives). Laut einer Studie der Universität Amsterdam können bis zu 1 % der als verdächtig gemeldeten Inhalte unzutreffend sein (Universität Amsterdam, 2023), was bei Milliarden von Nachrichten pro Tag zu millionenfachen Eingriffen führen kann.
Was die Chatkontrolle für Anbieter bedeutet
Online-Anbieter mit Kommunikationsfunktionen stehen im Zentrum der Regulierung. Besonders Dienste mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sind betroffen. Anbieter sollen verpflichtet werden, sogenannte „Detektionsanordnungen“ umzusetzen, wenn ein begründeter Verdacht auf CSAM besteht. Alternativ können sie unter bestimmten Bedingungen pauschal verpflichtet werden, alle Nachrichten (auch verschlüsselte) zu untersuchen.
Für die Anbieter bedeutet das:
- Signifikanter technischer Aufwand zur Implementierung von Erkennungstechnologien
- Rechtliches Risiko bei Fehlalarmen oder Verletzung geltender Datenschutzregeln
- Mögliche Abwanderung von Nutzern zu datensicheren Alternativdiensten
Dienstleister wie Signal oder Threema drohen mit Rückzug vom EU-Markt, sollte die Verordnung in ihrer aktuellen Form verabschiedet werden. „Es ist technisch unmöglich, eine Verschlüsselung zu versprechen und gleichzeitig alle Chats zu durchsuchen“, sagte Meredith Whittaker, Präsidentin der Signal Foundation, in einem Interview mit Politico.
Gefahr für Privatsphäre und Grundrechte
Datenschützer und Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Verordnung massiv. Die European Digital Rights (EDRi) bezeichnete das Vorhaben als „Generalverdacht gegen alle Kommunikationsnutzer“. Die Kernargumente der Kritiker lauten:
- Abschaffung der Vertraulichkeit der Kommunikation, ein in Art. 7 der EU-Grundrechtecharta verankertes Recht
- Untergräbt das Prinzip der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung
- Fehlermöglichkeiten bei KI-Scans können zu ungerechtfertigten Strafverfolgungen führen
Ein vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages erstelltes Gutachten kommt zu dem Schluss, dass die geplante Maßnahme in ihrer ursprünglichen Fassung „verfassungs- und europarechtswidrig“ sein könnte, insbesondere im Hinblick auf Artikel 8 EMRK (Recht auf Privatsphäre).
Besonders kritisch: Die neue Verordnung droht auch die freie Nutzung offener Betriebssysteme, alternativer App-Stores oder quelloffener Software zu beschneiden – falls deren Produkte die Auflagen technisch nicht erfüllen. Kritiker fürchten so eine faktische Monopolisierung durch große Plattformanbieter, die die entsprechenden Ressourcen und Zugänge haben.
Zwei aktuelle Kennzahlen unterstreichen die Brisanz:
- Laut einer Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2024 lehnen 67 % der EU-Bürger eine pauschale Überwachung privater Kommunikation ab (Eurobarometer 2024).
- Im selben Zeitraum stieg die Nutzung verschlüsselter Messenger wie Signal um 38 %, was den Wunsch nach Privatsphäre unterstreicht (Quelle: Statista, Juni 2025).
Ringen um Kompromisse im Gesetzgebungsverfahren
Die Verordnung ist noch nicht final verabschiedet. Der EU-Rat, das EU-Parlament und die Kommission befinden sich im sogenannten Trilog-Verfahren, das voraussichtlich bis Mitte 2026 abgeschlossen sein wird. Bereits im Mai 2025 hatte die spanische Ratspräsidentschaft vorgeschlagen, Detektionsanordnungen nur für besonders schwere Verdachtslagen zu erteilen und verschlüsselte Kommunikation zunächst aus dem Geltungsbereich auszunehmen. Dieser Vorschlag spaltet jedoch die Mitgliedsstaaten.
Deutschland hat sich bisher eher kritisch geäußert. Die Bundesbeauftragte für Datenschutz, Ulrich Kelber, warnte wiederholt vor einer „Bespitzelung im Nachrichtenaustausch“. Andere Länder wie Frankreich oder Polen drängen auf eine möglichst weitreichende Scanpflicht, angeführt vom Argument des Kinderschutzes.
Expertenmeinungen: Zwischen Kinderschutz und Überwachungsvorwurf
Die Meinungen innerhalb der Fachwelt sind gespalten. Während Kinderschutzorganisationen wie „Innocence in Danger“ argumentieren, dass es ohne technische Erkennung keine effektive Strafverfolgung geben könne, sehen IT-Sicherheitsexperten die Gefahr eines Dammbruchs.
Prof. Dr. Norbert Pohlmann vom Institut für Internet-Sicherheit der Westfälischen Hochschule erklärt: „Client-Side-Scanning ist mit moderner Verschlüsselungstechnologie unvereinbar. Wer Eingriffe auf dem Gerät zulässt, öffnet Überwachung Tür und Tor.“
Andere schlagen alternative Wege vor: Verstärkte Ressourcen in Strafverfolgung, bessere internationale Zusammenarbeit und Aufklärung in Schulen. Der österreichische Kryptografie-Forscher Dr. Marian Margraf schlägt vor, stattdessen gezielte Überwachungsanordnungen basierend auf richterlichem Beschluss umzusetzen – im Einklang mit europäischen Rechtsprinzipien.
Praktische Empfehlungen für Nutzer
Für Nutzer stellt sich die Frage, wie sie jetzt und in Zukunft reagieren können. Solange die endgültige Verordnung noch nicht beschlossen ist, gelten nationale Datenschutzgesetze. Dennoch sollten sich Bürger frühzeitig vorbereiten:
- Auf datenschutzfreundliche Dienste setzen: Signal, Threema oder Element setzen auf robuste Verschlüsselung und Datenschutzkonzepte.
- Geräte regelmäßig überprüfen: Installierte Software auf ungewöhnliches Verhalten prüfen, Updates nur aus vertrauenswürdigen Quellen beziehen.
- Politisches Engagement zeigen: Kommunikation mit Lokalpolitikern, Petitionen unterstützen, z. B. über Plattformen wie „ChatkontrolleSTOPPEN.eu“
Ein Ausblick: Digitaler Schutz mit Augenmaß
Die Debatte um die Chatkontrolle ist ein Paradebeispiel für den Spannungsbogen zwischen Sicherheit und Freiheit in der digitalen Ära. Der Wunsch nach Schutz von Kindern ist legitim – ebenso das Bedürfnis nach uneingeschränktem Schutz der Privatsphäre. Die finalen Verhandlungsrunden auf EU-Ebene werden zeigen, ob ein tragfähiger Kompromiss möglich ist, der beides vereint.
Digitaler Datenschutz darf kein Privileg für Technikaffine sein – er ist ein Grundrecht. Die Community ist gefragt: Welche Lösungen erscheinen praktikabel, welche Grenzen sind unantastbar? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren oder teilen Sie Ihre Sicht mit der Redaktion.




