Ein akuter Herzinfarkt kommt oft scheinbar aus dem Nichts – doch neue KI-Technologien könnten bald Leben retten, indem sie Warnzeichen schon erkennen, bevor klassische Symptome auftreten. Startups und Forschungsteams weltweit arbeiten an Lösungen, die mit Hilfe von Big Data und Machine Learning persönliche Risikoprofile überwachen und potenziell gefährliche Muster identifizieren. Eine stille Revolution in der Kardiologie ist im Gange – mit vielversprechenden Ergebnissen.
Herzinfarkt bleibt weltweit Todesursache Nummer Eins
Kardiovaskuläre Erkrankungen sind laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) weiterhin die häufigste Todesursache weltweit – rund 17,9 Millionen Menschen sterben jährlich an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, davon etwa 85 Prozent an Herzinfarkt oder Schlaganfall. In Deutschland sind es laut Statistischem Bundesamt jährlich über 280.000 Krankenhausaufenthalte wegen Herzinfarkt, mehr als 45.000 Menschen sterben jährlich daran.
Oft folgt ein Herzinfarkt keinem klaren Muster und bleibt lange asymptomatisch. Zwar gibt es etablierte Scores wie den Framingham Risk Score oder den SCORE2, doch die Genauigkeit dieser Modelle ist begrenzt, da sie auf statischen Risikofaktoren basieren. Genau hier setzen neue Ansätze der künstlichen Intelligenz an.
Wie KI die Kardiologie neu denkt
Künstliche Intelligenz ermöglicht es, große Mengen medizinischer Daten automatisiert zu analysieren – von EKGs über MRT-Bilder bis hin zu Lifestyle-Daten aus Wearables. Startups wie Corti (Dänemark), Anumana (USA) oder Cardiologs (Frankreich – jetzt Teil von Philips) setzen neueste Deep-Learning-Modelle ein, um Anomalien zu erkennen, die menschlichen Augen entgehen.
Ein Meilenstein ist die KI-Plattform von Anumana, die in Zusammenarbeit mit der Mayo Clinic entwickelt wurde. Mithilfe neuronaler Netze analysiert die Lösung Standard-EKGs und identifiziert versteckte Muster, die auf drohende Herzinsuffizienzen oder strukturelle Probleme hindeuten. Besonders bemerkenswert: Ein 12-Kanal-EKG kann durch die KI frühzeitig Hinweise auf eine asymptomatische linke ventrikuläre Dysfunktion geben – ein Risikofaktor für Herzinsuffizienz und plötzlichen Herztod.
Eine 2022 in Nature Medicine veröffentlichte Studie zeigte, dass KI-unterstützte EKG-Analysen eine Sensitivität von über 85 Prozent bei der Identifikation latenter Herzinsuffizienz erreichen – ein Wert, der weit über der Genauigkeit konventioneller Methoden liegt (Quelle: Attia et al., Nature Medicine, 2022).
Früherkennung durch Wearables und kontinuierliches Monitoring
Neben klinischen Anwendungen rücken auch personalisierte Geräte in den Fokus. Wearables wie Fitbit, Apple Watch oder Withings ScanWatch sammeln kontinuierlich biometrische Daten wie Puls, Herzfrequenzvariabilität, Sauerstoffsättigung und Schlafqualität. Durch Schnittstellen zu KI-Plattformen werden daraus zunehmend individualisierte Risikobewertungen möglich.
Google Health und Fitbit haben 2023 ein KI-Modell vorgestellt, das aus Wearable-Daten frühe Anzeichen kardiovaskulärer Belastung erkennen kann. Gleichzeitig entwickeln Firmen wie HeartFlow oder Cleerly KI-gestützte Bildgebungsanalysen für CT-Angiographien, um Plaque-Verteilung und koronare Engstellen präzise zu bestimmen.
Ein Beispiel aus der Praxis: Die KI von Cardiologs erkannte in einer retrospektiven Analyse in Kooperation mit AP-HP Paris abnormal häufige ventrikuläre Extrasystolen – ein möglicher Vorbote für ventrikuläre Tachykardien – bei Patienten, die später einen Infarkt erlitten. Die Studienautoren gehen davon aus, dass solche Signale bis zu sechs Monate vor dem Ereignis detektiert werden können.
Statistik: Laut einer McKinsey-Analyse aus dem Jahr 2023 könnten KI-gestützte Gesundheitstechnologien in der Kardiologie weltweit jährlich über 150 Milliarden US-Dollar an Einsparpotenzial generieren – durch frühere Diagnosen, optimierte Therapieführung und reduzierten Klinikaufenthalt (Quelle: McKinsey, 2023).
Herausforderungen: Bias, Patientensicherheit und regulatorische Hürden
So vielversprechend die Technologie ist, sie steht vor wichtigen Herausforderungen. Trainingsdaten, die vorwiegend von bestimmten Bevölkerungsgruppen stammen, können zu Algorithmus-Bias führen. Das kann in der Herzdiagnostik dramatische Folgen haben, wenn etwa Symptome bei Frauen oder bei ethnischen Minderheiten anders interpretiert werden.
Auch das „Black Box“-Problem, also die fehlende Transparenz vieler neuronaler Netze, beschäftigt Mediziner und Behörden gleichermaßen. Die Europäische Union plant im Rahmen des AI Act strenge Auflagen für medizinische KI-Anwendungen. Diese müssen erklärbar, nachvollziehbar und validiert sein – insbesondere, wenn sie in klinische Entscheidungen eingreifen.
Regulatorik und klinische Validierung verzögern derzeit oft die Markteinführung neuer KI-Systeme. Dennoch wurden laut European Medicines Agency (EMA) zwischen 2018 und 2024 über 70 medizinische KI-Systeme für den europäischen Markt zugelassen oder zertifiziert. Ein Trend, der sich fortsetzen dürfte.
Praktische Empfehlungen: Wie Kliniken und Ärzte jetzt handeln können
Damit der Nutzen der KI in der Herzmedizin auch in der breiten Versorgung ankommt, sind vorausschauende Entscheidungen nötig. Hier drei konkrete Empfehlungen:
- Interdisziplinäre Teams bilden: Kardiologen, Datenwissenschaftler und IT-Experten sollten gemeinsam evaluieren, welche KI-Lösungen klinischen Mehrwert bieten.
- Schulungen und Akzeptanz schaffen: Ärztinnen und Ärzte sollten gezielt geschult werden, wie KI-Auswertungen zu interpretieren sind, um sie in Entscheidungen einzubinden.
- Validierung und Datenschutz beachten: Nur KI-Tools einsetzen, die auf klinisch validierten Daten basieren und DSGVO-konform sind.
Wie sieht die Zukunft der kardiovaskulären Diagnostik aus?
Die Kombination aus kontinuierlichem Datenstrom, leistungsfähiger KI-Analyse und personalisierten Auswertungen verspricht eine neue Qualität in der Prävention und Früherkennung. Erste Studien aus den USA zeigen, dass Patienten mit KI-basiertem Monitoring bis zu 30 % seltener wegen kardiovaskulärer Ereignisse hospitalisiert wurden (Quelle: JAMA Cardiology, 2024).
Langfristig könnten digitale Zwillinge auf KI-Basis entstehen – virtuelle Abbilder von Patienten, an denen individuelle Therapiestrategien simuliert und optimiert werden. Was derzeit noch visionär klingt, ist bereits Gegenstand aktiver Forschung.
Fazit: KI als stille Lebensretterin – mit Verantwortung
Die Integration künstlicher Intelligenz in die Kardiologie zeigt eindrucksvoll, welches Potenzial in datengestützten Verfahren steckt. Lebensrettende Diagnosen könnten künftig im Alltag erkannt werden – im Smartphone, im Smartwatch-Sensor oder auf Basis einer Cloud-Auswertung des Hausarzt-EKGs.
Doch Technologie allein genügt nicht: Transparenz, Validität, Ethik und ärztliche Verantwortung bleiben zentrale Faktoren. Werden diese erfüllt, kann KI für Millionen Herzpatienten weltweit nicht nur eine technische Innovation sein – sondern eine neue Hoffnung auf ein längeres Leben.
Was denken Sie? Nutzen Sie schon KI-Anwendungen in Ihrer Praxis oder Klinik? Teilen Sie Ihre Erfahrungen mit unserer Community in den Kommentaren!




