Ein Paradigmenwechsel in der digitalen Buchbranche kündigt sich an: Amazon plant, ab Januar 2026 den Kindle-Shop für DRM-freie E-Books im E-Pub- und PDF-Format zu öffnen. Was für viele Nutzer nach einer kleinen technischen Veränderung klingt, stellt in Wahrheit eine tektonische Bewegung im globalen E-Book-Markt dar. Branchenexperten, Verlage und Autoren blicken mit gemischten Erwartungen auf einen Schritt, der neue Chancen, aber auch Herausforderungen birgt.
Ein historischer Bruch: Amazon lässt E-Pub und PDF zu
Knapp zwei Jahrzehnte lang setzte Amazon mit seinem Kindle-Ökosystem auf proprietäre Formate – insbesondere das AZW- und zuletzt das KFX-Format. Diese Dokumenttypen waren fest an den Kindle-Reader und Amazon-eigene Apps gebunden, darunter Kindle für PC, iOS und Android. Zwar konnte der Kindle seit 2022 E-Pub-Dateien per Send-to-Kindle importieren, doch die offizielle Unterstützung war eingeschränkt und stets mit Konvertierungen verbunden.
Mit der Ankündigung, dass der Kindle-Shop ab dem 1. Januar 2026 DRM-freie Downloads in offenen Formaten wie E-Pub und PDF ermöglichen wird, gibt Amazon nun eines seiner letzten Alleinstellungsmerkmale auf.
„Das ist ein massiver Strategiewechsel,“ erklärt Dr. Jonas Ferber, Medienökonom und Digitalmarktanalyst. „Amazon hat erkannt, dass langfristiger Plattform-Erfolg nicht durch Abschottung, sondern durch Integration erzielt wird.“
Und auch technologisch ist dies keine Kleinigkeit: Amazon muss seine Shop-Infrastruktur anpassen, ein transparentes Lizenzsystem etablieren und sicherstellen, dass Leserlebnis, Lesestatistik und Cloud-Synchronisierung trotz offener Formate funktionieren. Besonders bei PDF-Dokumenten, die sich nicht dynamisch skalieren lassen, stellt die Integration eine Herausforderung an die Benutzerfreundlichkeit dar.
Der Druck kam von außen – und von innen
Die Entscheidung Amazons kommt keineswegs freiwillig. Vielmehr ist sie eine Reaktion auf dynamische Marktentwicklungen der letzten Jahre. Laut einer aktuellen Studie des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels wuchs der Anteil von E-Books mit offenem Formatanteil 2024 auf über 63 Prozent in Deutschland (Quelle: Börsenverein E-Book-Studie 2025). Parallel sank die Bereitschaft der Leserinnen und Leser, sich dauerhaft an geschlossene Ökosysteme zu binden.
Hinzu kommt der anhaltende regulatorische Druck der EU-Kommission, die im Zuge des Digital Markets Act (DMA) wiederholt Plattformkonzerne ermahnt hat, monopolistische Strukturen im Medienbereich aufzubrechen. Auch der amerikanische Markt ist in Bewegung: Anbieter wie Kobo oder Barnes & Noble konnten dank offener Formate wieder Marktanteile gewinnen, vor allem unter technikaffinen Viellesern.
„Den wachsenden Wunsch nach Datenportabilität konnte auch Amazon nicht mehr ignorieren,“ meint Katharina Lenzen, Produktmanagerin beim E-Book-Portal Bookwire. „Die Leserinnen kaufen inzwischen verstärkt plattformunabhängig – und das wird sich durch diese Entscheidung weiter beschleunigen.“
Das ändert sich für Leserinnen und Leser
Die Auswirkungen für Konsumenten sind weitreichend. Künftig können sie im Kindle-Shop nicht nur DRM-freie Bücher erwerben, sondern diese auch direkt als E-Pub oder PDF herunterladen – kompatibel mit nahezu jedem Lesegerät.
- Mehr Gerätefreiheit: E-Books können künftig problemlos auf Tolino, PocketBook oder dem eigenen Laptop gelesen werden, ohne auf Drittsoftware oder Konvertierungstools zurückgreifen zu müssen.
- Eigene Archivierung: Verbraucher erhalten volle Kontrolle über ihre gekauften E-Books. Diese lassen sich lokal sichern, archivieren oder auf NAS-Systemen speichern.
- Kein DRM-Ärger mehr: Die Reibungen durch digitale Restriktionen – von der Leihbeschränkung bis zur Gerätebindung – entfallen beim Großteil zukünftiger Kindle-Inhalte.
In der Praxis bedeutet das auch: Ein E-Book, das heute bei Amazon gekauft wird, lässt sich morgen ohne Aufwand auf einem nicht-Kindle-Gerät verwenden – ein Novum in der Amazon-Welt.
Auswirkungen auf Autoren und Verlage
Die Liberalisierung des Kindle-Formats hat ebenfalls erhebliche Konsequenzen für Autorinnen, Selfpublisher und Verlage. „Für uns bedeutet das neue Vertriebsmöglichkeiten ohne technologische Einstiegshürden,“ sagt Julia Abele, Verlagsleiterin bei einem unabhängigen Berliner E-Book-Verlag. „Wir müssen keine Spezialformate mehr erzeugen – das spart Geld und Zeit.“
Selbstverleger profitieren darüber hinaus von einer erweiterten Leserschaft: Wer bisher aufgrund technischer Restriktionen Amazon mied, könnte nun gezielt DRM-freie Kindle-Editionen kaufen, ohne sein Lesegerät wechseln zu müssen.
Gleichzeitig könnte Amazons Entscheidung Preismodelle unter Druck setzen: „Der Wettbewerb um Sichtbarkeit, Platzierungen und Umsatzbeteiligung wird sich verschärfen“, so Abele. „Wer E-Books auch über andere Plattformen vertreibt, muss sich strategisch neu positionieren.“
Der Markt für offene E-Books wächst – schnell
Die Öffnung Amazons passt in einen größeren Trend. Laut der „Global Digital Reading Trends“-Studie 2025 der IPA (International Publishers Association) stieg der globale Umsatz mit DRM-freien E-Books 2024 um 39 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Besonders groß war das Wachstum im Bildungswesen und unter Indie-Lesenden über 30.
Mit rund 68 Milliarden gelesenen Leseminuten auf mobilen Endgeräten erreichte die Nutzung von E-Books insgesamt 2024 ein Allzeithoch (Quelle: IPA, Digital Reading Trends 2025). Diese Entwicklungen verstärken den Bedarf an flexiblen, hinweg über Geräte- und Plattformgrenzen funktionierenden Lösungen.
Und Amazon? Könnte am Ende davon profitieren. „Offene Formate senken die Eintrittshürden für Neukunden“, so Dr. Ferber. „Wenn Amazon als Händler seinen Umsatz über Formate hinweg sichern kann, wird der Kuchen größer – nicht kleiner.“
Folgewirkungen für andere Plattformen
Die Entscheidung wird die gesamte E-Book-Industrie herausfordern. Plattformen wie Apple Books und Google Play Books dürften unter Zugzwang geraten, ihre eigenen Restriktionen zu überdenken. Und auch Tolino wird sich stärker differenzieren müssen – etwa über kuratierte Inhalte, abonnierbare Leseclubs oder KI-unterstützte Lesehilfen.
Doch auch kritische Stimmen werden laut: Datenschützer warnen davor, dass offene Formate nicht automatisch verbesserte Privatheit bedeuten. „Die Metadaten-Kontrolle liegt weiter bei der Plattform,“ mahnt die Initiative NetzLiteratur e.V. „Ohne Transparenz der Sync-Protokolle bleibt echter Besitz eine Illusion.“
Was sollten Leser jetzt tun?
- Leser, die bereits auf Kindle setzen, sollten ihre bestehende Bibliothek prüfen – Amazon wird voraussichtlich eine Option zur Formatumwandlung älterer Titel anbieten.
- Wer den Wechsel zu plattformunabhängigen Readern plant, sollte bis Q1 2026 Modelle unterstützen, die Adobe DRM und unverschlüsselte PDFs zuverlässig lesen können.
- Beim Neukauf von E-Books ist künftig auf die Lizenzkategorie zu achten: Nur Titel mit explizit gekennzeichneter DRM-Freiheit erlauben offene Nutzung.
Fazit: Ein Schritt in eine offenere Lesewelt
Mit der Öffnung des Kindle-Shops für E-Pub und PDF setzt Amazon ein starkes Zeichen Richtung Nutzerorientierung und Interoperabilität. Was zunächst nach einem kleinen Formatwechsel klingt, ist tatsächlich ein technologisches und marktpolitisches Statement von Gewicht. E-Books verlieren ihren Käfig – und gewinnen an Bedeutung.
Ob andere Plattformen nachziehen, bleibt abzuwarten. Sicher ist: Konsumenten erhalten mehr Kontrolle, Selfpublisher mehr Freiheiten und die digitale Bücherwelt ein Quäntchen mehr Unabhängigkeit. Die Lesezukunft wird damit vielfältiger, durchlässiger – und vielleicht sogar ein Stück gerechter.
Welche Chancen seht ihr in Amazons Formatöffnung? Teilt eure Meinung mit uns in den Kommentaren oder diskutiert in unserer Community auf techmag.de/forum!




