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Digitale Souveränität Europas: Status Quo und Zukunftsperspektiven

Ein lichtdurchflutetes, modernes Konferenzzimmer mit europäischen Fachleuten in angeregtem Austausch vor großen Fenstern, die warmes Tageslicht hereinlassen und eine Atmosphäre von Zuversicht, Kooperation und digitalem Aufbruch vermitteln.

Die europäische Digitalwirtschaft steht am Scheideweg: Zwischen geopolitischen Spannungen, wachsendem Technologie-Nationalismus und dem Wunsch nach regulatorischer Selbstbestimmung stellt sich eine zentrale Frage – wie souverän ist Europa eigentlich digital? Und was muss geschehen, damit das digitale Rückgrat des Kontinents nicht länger von außereuropäischen Technologien dominiert bleibt?

Digitale Souveränität: Zwischen Wunschbild und Realität

Der Begriff „digitale Souveränität“ hat sich in den letzten Jahren von einem politischen Schlagwort zu einem handlungsweisenden Imperativ entwickelt. Gemeint ist die Fähigkeit eines Staats oder Staatenverbunds, eigene digitale Infrastrukturen, Datenflüsse, Standards und Technologien unter eigener Kontrolle zu betreiben – unabhängig von externen Mächten.

Doch wie weit ist Europa auf diesem Weg gekommen? René Büst, Director of Technology bei der Unternehmensberatung Arvato Systems, äußerte sich zuletzt kritisch über den tatsächlichen Fortschritt. In einem Interview mit dem Cloudflight-Magazin Digital Infra hob er hervor: „Solange Unternehmen in Europa darauf angewiesen sind, Dienste auf Hyperscaler-Infrastruktur zu hosten, sind unsere Daten, unsere Standards und letzten Endes unsere Souveränität nicht vollständig in europäischer Hand.“

Damit trifft Büst eine zentrale Wunde der europäischen Technologiepolitik: Der Digitalisierungsgrad ist hoch, die Kontrolle über kritische Dienste und Plattformen jedoch begrenzt – ein Machtdefizit, das sich im Zeitalter von Cloud-Diensten, KI-Systemen und Rechenzentren als geopolitisches Risiko entpuppt.

Vertrauenskrise seit dem NSA-Skandal: Die Folgen geopolitischer Abhängigkeit

Die Enthüllungen von Edward Snowden im Jahr 2013 haben die Diskussion über digitale Unabhängigkeit Europas nachhaltig geprägt. Seitdem ist bekannt, in welchem Ausmaß US-Behörden auf Daten europäischer Bürger und Unternehmen zugreifen können – teils unter Berufung auf Gesetze wie den USA PATRIOT Act oder den Cloud Act.

Diese systemischen Unsicherheiten führten zu einem erheblichen Vertrauensverlust gegenüber internationalen Anbietern. Besonders bei öffentlichen Verwaltungen und sicherheitskritischen Sektoren – etwa im Gesundheitswesen oder der Energieversorgung – wuchs die Nachfrage nach IT-Lösungen mit Datenhaltung in Europa.

Doch das Misstrauen allein hat kaum zu strategischer Unabhängigkeit geführt. Laut einer Studie von Synergy Research (2025) entfallen weiterhin rund 67 % des europäischen Cloud-Marktes auf US-amerikanische Hyperscaler wie AWS, Microsoft Azure und Google Cloud. Europäische Alternativen kommen zusammen auf gerade einmal 11 % Marktanteil – ein Abbild massiver technologischer Abhängigkeit.

GAIA-X und Co.: Europäische Alternativen im Aufbau

Als Antwort auf diese Schieflage startete die europäische Industrie 2020 das Projekt GAIA-X, eine paneuropäische Initiative zur Entwicklung eines souveränen Dateninfrastruktur-Ökosystems. Ihre Mission: standardisierte, interoperable, skalierbare und zugleich rechtssichere Cloud-Angebote zu schaffen, die europäischen Werten folgen.

Doch der Weg zum Erfolg war holprig. Interne Differenzen, fehlende rechtliche Verankerung und langsame Entscheidungsfindungen haben das Projekt zwischenzeitlich ausgebremst. Immerhin: Seit 2024 sind die ersten GAIA-X-kompatiblen Dienste zertifiziert, etwa von Anbietern wie Cloud&Heat, OVHcloud und IONOS. Die neu gegründete GAIA-X Digital Clearing House-Instanz dient dabei als vertrauensbildende Instanz für das ökosystemweite Governance-Framework.

Parallel dazu entstehen neue Initiativen wie Sovereign Cloud Stack (SCS), initiiert vom Open Source Business Alliance, welches einen praktikableren Open-Source-Ansatz verfolgt. SCS wurde zuletzt in mehreren Rechenzentren öffentlicher Verwaltungen pilotiert – darunter in Baden-Württemberg und Bayern.

Marktreife europäischer Cloudanbieter: Fortschritte und Defizite

Während europäische Anbieter funktional aufholen, bleibt Skalierung ein zentrales Problem. Hyperscaler punkten mit globalem Footprint, ausgereifter Automatisierung und aggressiver Preispolitik. Anbieter wie Scaleway, Exoscale oder Hetzner bieten zwar performante Infrastrukturen – doch ohne vergleichbares Ökosystem, APIs oder Machine-Learning-Plattformen ist der Weg in den Enterprise-Markt steinig.

Laut einer Bitkom-Studie von 2025 sehen 76 % der befragten deutschen Unternehmen Datenschutz und Datenhaltung im Inland als entscheidende Faktoren bei der Cloudanbieterwahl. Dennoch bevorzugen rund die Hälfte davon US-Anbieter, da Funktionstiefe und Integrationen als überlegen gelten.

Für europäische Anbieter ergibt sich daraus ein strategischer Spagat: Wie kann man gleichzeitig regulatorischen Anforderungen, technologischen Erwartungen und marktwirtschaftlichem Druck gerecht werden?

Regulatorischer Rückenwind: Der Digital Markets Act und Cyber Resilience Act

Impulse kommen inzwischen aus Brüssel. Mit dem Digital Markets Act (DMA) und Digital Services Act (DSA) will die EU marktbeherrschende Plattformen regulieren und offenere Strukturen fördern. Auch der Cyber Resilience Act setzt neue Maßstäbe für Sicherheitsanforderungen digitaler Produkte und Services in Europa.

Besonders der 2025 in Kraft getretene EUCS (EU Cloud Services Scheme)-Rahmen legt Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Cloud-Services fest. Bei konsequenter Anwendung könnten zumindest öffentliche Institutionen dazu gedrängt werden, bevorzugt auf Dienste mit EUCS-Zertifizierung zu setzen – ein Türöffner für europäische Anbieter.

Realistische Perspektiven: Kommt Europas digitale Wende?

Die Zeichen stehen auf Wandel, doch der Weg ist noch weit. Es braucht ein strategisches Gesamtbild, das technologische Entwicklungen, staatliche Förderungen und privatwirtschaftliche Innovationskraft vereint. Einige der notwendigen Schritte sind bereits identifiziert:

  • Vertiefter europäischer Schulterschluss: Gemeinsame Industriepolitik, koordinierte Forschungsförderung und interoperable Standards müssen über nationale Interessen hinausgedacht werden.
  • Förderung europäischer Plattformansätze: Neben Infrastruktur muss Europa auch kompetitive Applikations- und Datenplattformen fördern, etwa für KI, IoT und Industrie 4.0.
  • Verpflichtende Souveränitätskriterien bei öffentlicher IT-Beschaffung: Behörden sollten bei Cloud-Vergaben verpflichtend Sicherheits- und Herkunftsaspekte bewerten – nicht nur Preis und Performance.

Auch René Büst betont: „Wir sollten weniger darüber sprechen, wie weit uns andere Nationen technologisch voraus sind, und stattdessen damit beginnen, eigene exzellente Infrastruktur und Plattformen zu bauen – mit europäischem Wertekompass.“

Fazit: Zwischen Aufbruch und Altlasten

Digitale Souveränität ist kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für wirtschaftliche Resilienz, demokratische Selbstbestimmung und sicherheitsorientierte Innovation. Europas Rückstand ist real, aber nicht irreversibel. Das Momentum für Veränderungen steigt – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich.

Wichtig nun ist, dass Europa seine digitalen Stellschrauben systematisch justiert, Silos auflöst und gezielt in alternative Anbieterlandschaften investiert. Die Zukunft ist offen – und sie beginnt mit technologischen Entscheidungen im Hier und Jetzt.

Welche Erfahrungen machen Sie mit europäischen Cloud- und Infrastrukturprojekten? Teilen Sie Ihre Einschätzungen, Best Practices oder Herausforderungen mit unserer Community – wir sind gespannt auf Ihre Perspektive!

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