Quantencomputer gelten als die nächste große technologische Revolution – doch wie weit sind wir tatsächlich? Dr. Alessandro Curioni, Director von IBM Research Europe, gibt im Interview tiefe Einblicke in den Stand der Quantenforschung, das globale Wettrennen und die Chancen für Europa und Afrika.
Ein Pionier der Quantenforschung spricht Klartext
Alessandro Curioni zählt zu den einflussreichsten Vordenkern im Bereich High-Performance Computing und Quantentechnologie bei IBM. Im Rahmen eines ausführlichen Interviews mit dem Innovation Quarterly von IBM schilderte er seine Sicht auf die globale Entwicklung von Quantencomputern und betonte, wie essenziell internationale Zusammenarbeit und Talentausbildung sind, um technologische Souveränität zu sichern – insbesondere für Europa und Afrika.
„Europa darf sich nicht auf die Rolle des Konsumenten beschränken – wir müssen Erzeuger von Technologie sein“, so Curioni. Diese Aussage spiegelt eine zentrale Botschaft wider: Wer technologisch unabhängig bleiben will, muss Quantenkapazitäten nicht nur nutzen, sondern aktiv mitgestalten.
Europa: Zwischen Ambition und Aufholbedarf
Europa verfügt über exzellente Forschungsinstitutionen und eine starke industrielle Basis, doch im Bereich Quantencomputing liegt der Kontinent aktuell noch hinter den USA und China zurück. Curioni sieht dennoch Potenzial: „Die EU hat das nötige Fundament. Jetzt geht es darum, die richtigen Investitionen in Infrastruktur und Talente zu tätigen.“
Ein wichtiger Schritt ist der European Quantum Flagship-Plan, der mit mehr als 1 Milliarde Euro bis 2028 den Aufbau einer wettbewerbsfähigen Quantenindustrie unterstützen soll (Quantum Flagship, EU, 2023). Dennoch hakt es laut Experten immer noch an strukturellem Verzahnungspotenzial zwischen Forschung und Wirtschaft.
Statistisch liegt Europa zwar vorn, was Patente und wissenschaftliche Publikationen im Quantenbereich betrifft. Doch in der Übersetzung dieser Forschung in konkrete Technologieprodukte dominieren bisher weiterhin amerikanische Tech-Unternehmen wie IBM, Google oder Rigetti.
Afrika: Quantenwachstum durch Bildung und Partnerschaft
Besonders bemerkenswert: Curioni identifiziert Afrika als potenzielles Innovationszentrum in der Zukunft – unter einer Bedingung: Bildung. „Afrika kann vom Quantenboom profitieren, aber der Schlüssel liegt in der Ausbildung junger Talente“, erklärt er.
Tatsächlich zeigen erste Initiativen Wirkung. IBM hat u. a. in Zusammenarbeit mit der University of the Witwatersrand (Wits) in Südafrika das erste Quantencomputing-Hub des Kontinents ins Leben gerufen. Ziel ist der Zugang zu realen Quantencomputern über die Cloud sowie die Förderung lokaler Entwickler-Communities.
Die Zahlen belegen ein stetiges Wachstum: Zwischen 2021 und 2024 stieg die Zahl der afrikanischen Entwickler, die an Quantencomputing-Programmen teilnehmen, um über 300 % (IBM Quantum Africa Engagement Report, 2024).
Industrieeinsatz: Anwendungen mit echtem Mehrwert
Quantencomputer versprechen massive Fortschritte – von Materialwissenschaft bis Finanzmärkte. Laut Curioni sei jetzt der Moment, reale industrielle Anwendungsfälle zu identifizieren: „Wir müssen aufhören von ‚irgendwann‘ zu sprechen – einige Probleme eignen sich heute schon hervorragend für hybride Systeme aus klassischen und Quantenprozessoren.“
Zu den vielversprechenden Einsatzgebieten zählen:
- Molekulare Simulation: Pharmaunternehmen wie Merck oder Roche nutzen bereits Quantenalgorithmen zur beschleunigten Medikamentenentwicklung.
- Optimierung in der Logistik: Etwa bei der Flugroutenplanung oder Paketdistribution, wie UPS in einem Pilotprojekt 2024 demonstrierte.
- Finanzportfolioberechnung: Banken und Vermögensverwalter integrieren Quantenmodelle in ihre Risikoanalysen, z. B. JPMorgan Chase im Rahmen der IBM Quantum Network Partnerschaft.
Diese hybriden Ansätze machen sich auch wirtschaftlich bemerkbar. Eine Studie von Boston Consulting Group geht davon aus, dass Quantencomputing bis 2035 weltweit einen wirtschaftlichen Mehrwert von bis zu 850 Milliarden US-Dollar generieren könnte (BCG, 2023).
Herausforderungen: Skalierbarkeit, Fehlerkorrektur und Talente
Doch der Weg ist steinig. Curioni benennt deutlich die größten Hürden: „Quantencomputing ist kein Sprint. Hardware-Stabilität, fehlerkorrigierte Qubits und verfügbare Talente werden die entscheidenden Faktoren für den Erfolg der nächsten Dekade.“
IBM verfolgt mit seinen Roadmaps ambitionierte Pläne: Bis 2025 sollen Systeme mit über 4000 Qubits stabil betrieben werden können. Mit je mehr Qubits man arbeitet, desto schwieriger und komplexer wird allerdings die Korrektur von Fehlern – eine der größten Hürden der heutigen Technologie.
Laut McKinsey fehlen der globalen Branche jährlich mehr als 10.000 Fachkräfte mit vertieften Quantenkenntnissen (McKinsey & Company, State of Quantum Tech, 2024).
Tipps für Unternehmen, die Quantenstrategie entwickeln möchten
Curioni betont: Jetzt sei der richtige Zeitpunkt, sich mit der Technologie strategisch auseinanderzusetzen – auch wenn ein voll skalierbarer Quantencomputer noch Jahre entfernt ist.
- Frühzeitig Kompetenzen aufbauen: Unternehmen sollten interne Teams und Spezialisten gezielt auf- oder weiterbilden – z. B. durch Online-Kurse (Qiskit, edX, Coursera).
- Partnerschaften eingehen: Mitgliedschaften in Netzwerken wie dem IBM Quantum Network bieten frühen Zugang zu Systemen und Know-how.
- Anwendungsfälle identifizieren: Der Fokus sollte auf hybrid machbaren Anwendungsfällen liegen, die bereits heute von Quantenvorteilen profitieren können.
Quantenstrategie als geopolitischer Hebel
Curioni macht deutlich, dass technologische Führerschaft auch ein geopolitisches Thema ist. Im Spannungsfeld zwischen China, den USA und Europa gewinnt technologische Souveränität zunehmend strategische Relevanz. Länder, die sich frühzeitig engagieren, sichern sich nicht nur Wettbewerbsvorteile, sondern auch politische Hebelwirkung.
Hierbei kommt dem Wissenstransfer und der globalen Kollaboration besondere Bedeutung zu. IBM setzt sich daher intensiv für Open-Science-Modelle und dezentrale Entwicklungssysteme ein – gerade in Verbindung mit aufstrebenden Regionen in Afrika oder Südamerika.
Fazit: Jetzt handeln, um die Zukunft zu formen
Alessandro Curioni vermittelt in seinem Ausblick eine klare Botschaft: Die Zeit des Wartens ist vorbei. Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Regierungen müssen gemeinsam daran arbeiten, das immense Potenzial des Quantencomputings produktiv zu erschließen.
„Wir haben einen historischen Moment – was wir jetzt tun, wird die technologische Landschaft der kommenden Jahrzehnte prägen.“
Die Community ist gefragt: Wie wird Ihre Organisation ihre Quantenstrategie gestalten? Teilen Sie Ihre Gedanken, Erfahrungen und Herausforderungen in den Kommentaren – und werden Sie Teil der nächsten technologischen Revolution.




