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Ethische Fragen im digitalen Marketing: Virtuelle Influencer am Pranger?

Eine helle, freundliche Szene eines modernen Kreativbüros bei Tageslicht, in der ein vielfältiges Team konzentriert an Laptops arbeitet und auf einem großen Bildschirm ein fotorealistisches, digitales 3D-Avatar-Porträt zu sehen ist, das subtil die Spannung zwischen menschlicher Authentizität und virtueller Inszenierung widerspiegelt.

Virtuelle Influencer sind auf dem Vormarsch – makellose Avatare mit Millionen Followern, die Marken repräsentieren, Produkte bewerben und Meinungen prägen. Doch in einer Ära, in der Authentizität eine zentrale Währung im Marketing ist, stellt sich eine unbequeme Frage: Können digitale Persönlichkeiten überhaupt glaubwürdig sein – oder täuschen sie Verbraucher gezielt?

Was sind virtuelle Influencer – und warum setzen Marken auf sie?

Virtuelle Influencer, auch CGI-Influencer (Computer Generated Imagery) genannt, sind vollständig digital erschaffene Figuren, die auf Plattformen wie Instagram, TikTok oder YouTube aktiv sind. Entwickelt von Kreativagenturen oder Technologieunternehmen, repräsentieren sie eine neue Generation von Markenbotschaftern – visuell perfekt, stets verfügbar, frei von Skandalen.

Ein bekannter Name ist Lil Miquela, ein Avatar mit über 2,6 Millionen Instagram-Followern (Stand: Juni 2024). Sie wird von der Firma Brud erzeugt und hat bereits mit Marken wie Calvin Klein, Prada und Samsung kooperiert. Ihrem Vorbild folgend sind weltweit über 150 virtuelle Influencer aktiv, in Märkten von Japan bis Brasilien.

Der Reiz aus Unternehmenssicht liegt auf der Hand: volle Kontrolle über Botschaften, keine unvorhersehbaren Reaktionen, keine menschlichen Makel. Studien wie der Virtual Influencer Report 2023 von HypeAuditor zeigen, dass virtuelle Influencer im Schnitt 3x mehr Engagement erzeugen als reale Mikro-Influencer – insbesondere bei der Generation Z.

Ethische Grauzone: Täuschung statt Transparenz?

Doch gerade diese makellose Kontrolle wirft ethische Fragen auf. Wer spricht da eigentlich – und wer zieht die Fäden im Hintergrund? Die Grenze zwischen Kreativität und Verbrauchertäuschung ist fließend.

Laut einer Umfrage von Statista im März 2024 wissen 47 % der befragten Social-Media-Nutzer nicht, dass ein Account von einem virtuellen Influencer betrieben wird. Die Gefahr von Intransparenz ist hoch – vor allem, wenn Werbeinhalte nicht klar gekennzeichnet werden oder die künstliche Natur der Figur bewusst verschleiert wird.

Dr. Katharina Esslinger, Medienethikerin an der Universität Leipzig, warnt: „Virtuelle Influencer erzeugen eine emotionale Nähe, die auf einer Illusion basiert. Besonders bei jüngeren Nutzer:innen besteht die Gefahr einer parasozialen Beziehung zu fiktiven Charakteren. Das wirft Fragen zur Manipulation auf.“

Vertrauensbasis im digitalen Marketing – unterwandert?

In der klassischen Influencer-Kommunikation basiert der Erfolg auf Authentizität. Reale Menschen erzählen persönliche Geschichten, zeigen Schwächen und interagieren glaubhaft mit ihrer Community. Ein Algorithmus oder ein Kreativteam im Hintergrund kann genau das nicht leisten – oder nur simulieren.

Hier entstehen Spannungsfelder: Wenn Unternehmen auf vollständig synthetische Stimmen setzen, mutieren sie zu Puppenspielern, die Vertrauen gezielt konstruieren. Die Rezipient:innen hingegen können kaum unterscheiden, ob emotionale Inhalte von echten Erfahrungen oder kalkulierter Strategie zeugen. Das untergräbt langfristig die Glaubwürdigkeit von Marken und Plattformen.

Ein besonders heikler Aspekt sind sogenannte Deepfake-Technologien, die in virtuellen Influencern mit realitätsnaher Mimik und Stimme zum Einsatz kommen. Die Schwelle zur digitalen Manipulation wird damit extrem niedrig – bis hin zum „Synthetic Humans Marketing“.

Regulatorischer Rahmen: Ein blinder Fleck?

Aktuell bewegen sich virtuelle Influencer weitgehend in einer rechtlichen Grauzone. Zwar schreibt das deutsche Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) vor, dass Werbung kenntlich gemacht werden muss, aber es fehlen ausdrücklich auf Avatare zugeschnittene Regeln.

„Wir beobachten eine Dynamik, die von der Gesetzgebung noch nicht eingeholt wurde“, erklärt Dr. Marcel Holler, Experte für Medienrecht. „Wer ein Unternehmen virtuell vermenschlicht, muss konsequenterweise auch an menschennahe Standards für Transparenz, Haftung und Informationspflicht gebunden werden.“

In der EU steht indes ein erster regulatorischer Rahmen in Aussicht: Die KI-Verordnung (AI Act), deren endgültige Fassung für Ende 2025 erwartet wird, könnte auch für virtuelle Figuren verpflichtende Offenlegungspflichten einführen. Doch ob das reicht, ist fraglich – denn viele Anwendungen lassen sich kreativ umgehen.

Branchenreaktionen: Von Selbstverpflichtungen bis Ethik-Labels

Einige Agenturen haben sich bereits freiwillige Richtlinien auferlegt. So kennzeichnen Unternehmen wie The Diigitals oder Apoki Industrie ihre Charaktere explizit als „CGI Avatar“ oder bieten in den Profilbeschreibungen einen Link zu Transparenzstatements.

Auch entstehen erste Initiativen für Ethik-Siegel oder Zertifizierungen. Das US-amerikanische Institute for Digital Ethics and Society (IDES) arbeitet aktuell an einem „Digital Influencer Code of Conduct“, der Mindeststandards für Offenheit, Datenschutz und Werbekennzeichnung definieren soll.

Allerdings bleibt unklar, wer solche Labels vergibt, durchsetzt und kontrolliert. Damit drohen freiwillige Maßnahmen noch an Glaubwürdigkeit zu verlieren – sie stehen im Verdacht der kosmetischen Compliance.

Praxisbeispiele: Zwischen Faszination und Risiko

Ein prominentes Beispiel für den Erfolg virtueller Markenbotschafter ist Noonoouri, ein CGI-Charakter aus Deutschland, der unter anderem mit Dior, Versace und Lacoste zusammenarbeitet – und Anfang 2024 sogar einen Vertrag mit einem Musiklabel unterzeichnete. Ihre Inhalte kombinieren High Fashion mit Aktivismus, etwa zu Nachhaltigkeit oder Tierrechten. Doch wie glaubwürdig kann gesellschaftliches Engagement sein, wenn die Sprecherin eine Fantasie ist?

Umgekehrt zeigen Fälle wie der virtuelle TikTok-Avatar Maya Gram, dass unausgewogene Botschaften auch verheerende Folgen haben können. Nach einem viralen Clip mit extremem Diät-Tipp folgte ein Shitstorm und der Vorwurf, Essstörungen zu befördern – obwohl der Avatar nur Content „spielte“. Doch die psychologische Wirkung war real.

Drei Handlungsempfehlungen: So gelingt ethisches digitales Influencer Marketing

  • Transparenz priorisieren: Kennzeichnungspflicht konsequent einhalten. Nutzer:innen müssen jederzeit erkennen können, ob sie mit einem realen oder virtuellen Influencer interagieren.
  • Verantwortung beim Design: Avatare sollten keine unrealistischen Schönheitsideale fördern oder Stereotype reproduzieren. Entwickler tragen ethische Mitverantwortung.
  • Fokus auf Werte statt Oberfläche: Marken sollten virtuelle Charaktere nutzen, um glaubwürdige Botschaften zu transportieren – nicht nur Klickzahlen zu maximieren.

Ausblick: Glaubwürdigkeitsmanagement im Zeitalter der Fiktion

Virtuelle Influencer stellen den Werbemarkt nicht nur technologisch, sondern ethisch vor eine Herausforderung. Sie könnten zum Symbol für eine Zukunft werden, in der Realität formbar ist und Authentizität als Strategie inszeniert wird.

Gleichzeitig bieten sie auch Chancen: für Inklusion, kreative Innovation und neue Kommunikationsformen. Voraussetzung ist jedoch eine klare ethische Linie. Unternehmen, Agenturen – und nicht zuletzt Leser:innen – müssen die Debatte aktiv führen und mitgestalten.

Welche Erfahrungen haben Sie mit virtuellen Influencern gemacht? Halten Sie digitale Persönlichkeiten für legitim – oder für eine Täuschung der Konsumenten? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren.

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