Künstliche Intelligenz verändert rasant die Art und Weise, wie Daten verarbeitet, ausgewertet und genutzt werden. Doch mit wachsender Rechenlast und Anforderungen an Datenlatenz wird auch die zugrunde liegende Infrastruktur entscheidend. Andreas Herden, Experte für digitale Infrastrukturen, erläutert im Interview, warum Edge-Datacenter für die KI-Zukunft unverzichtbar sind.
Edge als Antwort auf die KI-Revolution
Die explosionsartige Verbreitung von KI-Anwendungen – von Echtzeit-Analysen in der Industrie bis hin zu personalisierten Nutzerinteraktionen im Einzelhandel – stellt die zentralisierte Cloud-Infrastruktur vor neue Herausforderungen. Eine Studie des Marktforschungsunternehmens IDC prognostiziert, dass bis 2026 rund 55 % der Daten weltweit außerhalb traditioneller Rechenzentren oder Clouds verarbeitet werden (Quelle: IDC FutureScape 2023).
Andreas Herden, Vice President und Leiter Edge-Strategie bei einem europäischen Infrastrukturbetreiber, sieht darin die Geburtsstunde einer neuen Ära: „KI braucht Edge. Je näher die Rechenleistung am Entstehungsort der Daten liegt, desto effizienter, sicherer und skalierbarer wird die Verarbeitung.“
Tatsächlich benötigen KI-Modelle in Anwendungen wie autonomes Fahren, Smart Manufacturing oder Videoanalyse nicht nur enorme Rechenleistung, sondern auch extrem niedrige Latenzen – beides Anforderungen, die nur mit Edge-Datacentern direkt an strategischen Netzpunkten erfüllt werden können.
Warum zentrale Cloud-Strukturen nicht länger ausreichen
Herkömmliche Hyperscaler bieten exzellente globale Skalierung, doch ihre zentralisierten Datenzentren befinden sich oft hunderte oder gar tausende Kilometer entfernt vom Nutzer oder Sensor. Dies verursacht Verzögerungen, insbesondere bei latenzsensiblen Anwendungen. Herden warnt: „Die zehn Millisekunden aus dem Whitepaper sind in der Praxis oft eher zwanzig oder dreißig – und das reicht bei vielen KI-Systemen eben nicht.“
Edge-Infrastrukturen, also kleinere, regional verteilte Datacenter mit direkter Netzanbindung, minimieren diese Latenzen auf unter fünf Millisekunden und ermöglichen konstante Qualität selbst bei stark steigenden Datenvolumen.
Eine aktuelle Studie von STL Partners unterstreicht dies: Unternehmen, die Edge-Infrastrukturen nutzen, berichten von bis zu 35 % geringerer Latenzzeit und bis zu 20 % niedrigeren Kosten bei der Datenverarbeitung (Quelle: STL Partners Edge Computing Impact Report 2024).
Technologietreiber: DCIM, GPU-Clustering und energieeffiziente Architektur
Herden betont, dass moderne Edge-Datacenter weit mehr sind als bloße Mini-Versionen klassischer Rechenzentren. „Wir sprechen heute von hochautomatisierten Einrichtungen mit integrierter KI für Kapazitätsplanung, Temperaturmanagement und Energieoptimierung.“
Drei technologische Trends prägen laut Herden aktuell den Edge-Ausbau:
- DCIM (Data Center Infrastructure Management): Smarte Monitoring- und Managementsysteme ermöglichen Echtzeitsteuerung und automatisierte Fehlererkennung.
- GPU-basierte Microclusters: Kleine NVIDIA- oder AMD-Grafikeinheiten bündeln Rechenpower lokal für inferenzbasierte KI-Workloads.
- Containerisierte Infrastruktur: Dank Kubernetes & Co. lassen sich Anwendungen flexibel zwischen Edge und Core bewegen – je nach Anforderung und Auslastung.
Regulatorische Anforderungen: DSGVO, Datenhoheit und Minimalprinzip
Auch rechtlich verstärken sich die Argumente für Edge. Insbesondere im europäischen Raum setzt die DSGVO klare Grenzen bei der Datenübertragung und -speicherung. Herden formuliert es deutlich: „Datenvermeidung und Datenminimierung lassen sich technisch am besten umsetzen, wenn ich die Daten gleich dort verarbeite, wo sie entstehen.“
Gerade im Gesundheitswesen, in der Industrie 4.0 oder bei kritischer Infrastruktur erfordern nationale und EU-weite Vorgaben immer öfter, dass personenbezogene oder sensible Daten binnen weniger Millisekunden verarbeitet, aber gar nicht dauerhaft gespeichert werden. Edge-Datacenter sind hier mehr als ein Compliance-Vorteil – sie werden zur Notwendigkeit.
Hinzu kommt die geopolitische Komponente: Angesichts wachsender Spannungen im globalen Technologiewettlauf gewinnt auch die Souveränität der Datenverarbeitung an Bedeutung. „Ein dezentrales Netzwerk regionaler Edge-Knoten stellt sicher, dass Daten dort bleiben, wo sie anfallen – und nicht unerkannt über Drittstaaten-Clouds laufen“, betont Herden.
Kulturelle Nähe: Vertrauen, Nutzererlebnis und digitale Souveränität
Neben Technik und Recht sieht Herden auch eine kulturelle Verschiebung: „Immer mehr Unternehmen – aber auch ihre Kunden – wollen wissen, wo ihre Daten sind. Digitale Nähe wird zur Frage des Vertrauens.“
Edge-Datacenter ermöglichen nicht nur schnellere Datenverarbeitung, sondern stärken das Gefühl von Kontrolle und Transparenz. Das ist insbesondere relevant für KI-basierte Anwendungen mit direktem Kundenkontakt – etwa in Banken, bei Versicherungen oder im öffentlichen Dienst. Hier erhöht die tatsächliche Nähe der Infrastruktur zur Nutzendenebene das Vertrauen in die Systeme.
Ein weiteres Argument: die User Experience. Echtzeitverarbeitung durch Edge-Infrastruktur kann zu deutlich besseren Antwortzeiten und Interaktionen führen – gerade bei Sprachassistenten, Chatbots oder AR/VR-Anwendungen, die auf geringe Round Trips angewiesen sind.
Best Practices für den Einstieg in Edge-Infrastrukturen
Auf die Frage nach konkreten Empfehlungen für Unternehmen, die mit Edge-Datacentern starten wollen, verweist Herden auf pragmatische Pilotierungen:
- Lokal beginnen: Wählen Sie einen konkreten Anwendungsfall mit definiertem Datenfluss, etwa Videoanalyse oder Predictive Maintenance.
- Skalierbar planen: Setzen Sie auf modulare Infrastrukturlösungen, die sich nach Bedarf erweitern lassen – sowohl physisch als auch logisch.
- Mit Partnern arbeiten: Kooperieren Sie mit Edge-Providern, die regionale Präsenz, regulatorische Erfahrung und Hardware-Kompetenz mitbringen.
Herden unterstreicht, dass „Edge nicht als Konkurrenz zur Cloud“ verstanden werden sollte, sondern als strategische Ergänzung: „Wir sprechen zunehmend von hybriden Ökosystemen, in denen KI-Workloads zwischen Core, Cloud und Edge intelligent orchestriert werden.“
Marktentwicklung: Wo steht Edge 2025?
Der globale Markt für Edge-Datacenter wächst rasant: Laut einer Studie von Grand View Research wird der Markt von rund 10,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023 auf über 59 Milliarden US-Dollar bis 2030 steigen – bei einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von mehr als 28 %.
Schon heute betreiben Hyperscaler wie AWS (mit Wavelength), Microsoft (Azure Edge Zones) oder Google (Anthos) eigene Edge-Angebote, ebenso wie europäische Anbieter wie DE-CIX, Interxion oder Colt. Gleichzeitig entstehen immer mehr unabhängige Mikrorechenzentren in ländlichen Regionen, entlang von Glasfasertrassen, im Bahninfrastruktur-Umfeld oder an Umspannwerken – dort, wo Digitalisierung und Energieinfrastruktur verschmelzen.
Herden sieht darin eine positive Entwicklung: „Am Ende wird derjenige erfolgreich sein, der seine Edge-Infrastruktur als strategische Verlängerung seines Geschäftsmodells versteht – nicht als reines IT-Konstrukt.“
Fazit: Am Edge entscheidet sich die KI-Realität
Edge-Datacenter sind längst mehr als ein IT-Hype – sie bilden das Rückgrat für Echtzeit-KI, datengetriebene Geschäftsmodelle und rechtskonforme Digitalisierung in Europa. Die Nähe zum Nutzer, technologische Flexibilität und regulatorische Resilienz machen sie zur Schlüsselkomponente im KI-Zeitalter.
Doch der Weg dorthin erfordert kluge Strategien, Partnerschaften und Mut zum Wandel. Andreas Herden bringt es auf den Punkt: „Wer heute in Edge investiert, investiert in die digitale Mündigkeit von morgen.“
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