Künstliche Intelligenz

Von Physikern überrascht: Wie KI alte Rätsel neu löst

Ein sonnendurchflutetes, modernes Labor mit Physikern in angeregtem Austausch vor komplexen Datenvisualisierungen auf Bildschirmen, deren warme Farbtöne und natürliches Licht eine Atmosphäre von Neugier, Fortschritt und inspirierender Zusammenarbeit ausstrahlen.

Künstliche Intelligenz verändert nicht nur die Industrie und Softwareentwicklung – jetzt revolutioniert sie auch die Naturwissenschaften. Immer mehr Physiker setzen auf Machine Learning, um jahrzehntealte Probleme neu zu betrachten und überraschend kreative Lösungen zu finden. Was das für die Forschung bedeutet und wie Wissenschaftler KI bereits heute gezielt einsetzen, zeigt dieser Artikel.

Wenn Algorithmen die Naturgesetze befragen

Die Naturwissenschaften gelten gemeinhin als streng formalisiertes Feld, geprägt von Theorien, Experimenten und mathematischen Modellen. Doch genau hier bringt Künstliche Intelligenz einen unerwarteten Schub. Vor allem im Bereich der experimentellen Physik nutzt man zunehmend KI-basierte Systeme, um Anomalien in Datensätzen zu entdecken, Hypothesen zu generieren oder sogar neue physikalische Gesetzmäßigkeiten zu erkennen.

Ein bemerkenswertes Beispiel stammt aus der Quantenphysik: Forscher der ETH Zürich und der Universität Basel trainierten 2024 ein neuronales Netzwerk darauf, Zustände von Quantenmaterialien nur anhand von Messdaten vorherzusagen, ohne dass die zugrunde liegenden Regeln explizit programmiert wurden. Das KI-Modell identifizierte dabei eine bisher unbekannte Phase in einem topologischen Isolator, die zuvor von der Physikgemeinschaft übersehen worden war.

Laut einer Studie des MIT-IBM Watson AI Lab von Ende 2023 konnten Deep-Learning-Modelle in der Teilchenphysik bis zu 10x schneller hochdimensionale Streuprozesse analysieren als Standardalgorithmen – bei vergleichbarer Genauigkeit (Quelle: Nature Machine Intelligence, DOI: 10.1038/s42256-023-00653-y).

Physik trifft Datenwissenschaft: KI als Werkzeug für Erkenntnis

Im Zentrum der KI-gestützten Forschung steht dabei eine entscheidende Idee: Lernt ein Modell anhand hinreichend vieler experimenteller Daten, kann es Muster erkennen, die menschliche Forscher möglicherweise übersehen haben. Genau das ist der Fall bei der Materialforschung. Hier setzen Labore zunehmend auf generative Modelle wie Variational Autoencoders (VAE) oder generative adversarial networks (GANs), um neue Materialien mit gewünschten Eigenschaften zu synthetisieren.

Forscher des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme demonstrierten 2024, wie ein KI-Modell eine neue supraleitende Komposition mit potenzieller Anwendung bei Raumtemperatur identifizierte – zwei Jahre, bevor ähnliche Ergebnisse experimentell erreicht werden konnten. Die Bandbreite an Anwendungen reicht von Grundlagenforschung bis hin zu technologischen Entwicklungen in Energie, Elektronik und Sensorik.

Ein Paradigmenwechsel für die wissenschaftliche Methode?

Traditionell basiert das wissenschaftliche Arbeiten auf Theorieentwicklung, Hypothesenbildung und empirischer Überprüfung. Maschinelles Lernen – insbesondere Deep Learning – kehrt diesen Prozess teilweise um. Modelle erzeugen aus Daten Hypothesen oder beschreiben Korrelationen, die noch keiner physikalischen Theorie entsprechen.

Ein viel zitierter Fall ist das Projekt „AI Feynman“ des MIT, bei dem eine KI symbolische mathematische Ausdrücke aus Datensätzen generieren konnte, die mit bestehenden physikalischen Gesetzen übereinstimmten – oder diese sogar erweiterten. Die Modelle entdeckten Formeln, etwa für harmonische Oszillatoren oder Planetenbewegungen, allein durch Beobachtung der Datenstruktur. Erstaunlich: In 87,5 % der Fälle waren die rekonstruierten Formeln mit der „wahren“ Gleichung strukturell identisch oder sogar kompakter (Quelle: Udrescu/Martius, Science Advances, DOI: 10.1126/sciadv.aay2631).

Die wissenschaftliche Gemeinschaft ist darüber gespalten. Während einige Physiker KI als wertvolles Erkenntniswerkzeug begrüßen, warnen andere vor „Black-Box“-Erkenntnissen ohne physikalische Erklärung. Besonders in Bereichen wie der Hochenergiephysik oder Kosmologie, wo empirische Daten schwer zugänglich oder nur einmalig verfügbar sind, könne blinder Glaube an Machine Learning riskant sein.

Wo KI heute schon alte Rätsel löst

Ein weiteres faszinierendes Anwendungsfeld ist die Astronomie. Mit dem Gaia-Weltraumteleskop der ESA, das Milliarden Sterne erfasst, fallen täglich mehrere Terabyte an Rohdaten an. KI wird hier eingesetzt, um Strukturen in der Milchstraße sichtbar zu machen oder neue Exoplaneten-Kandidaten zu identifizieren. Im Jahr 2023 bestätigte ein Team des Max-Planck-Instituts für Astronomie mithilfe eines Transformer-Modells 30 neue potenzielle Exoplaneten, die zuvor vom Menschen übersehen wurden.

Ähnlich beeindruckend ist der Einsatz im Large Hadron Collider (LHC) am CERN. Hier analysieren KI-Modelle wie Graph Neural Networks (GNNs) die Kollisionsdaten von Protonen, um nach theoretischen Teilchen wie Dunkler Materie oder Supersymmetrie-Teilchen zu suchen. 2024 wurde ein Modell vorgestellt, das die Anomalien in Higgs-Zerfällen mit 12 % höherer Sensitivität identifizieren konnte als klassische Verfahren.

Statistische Erkenntnisse belegen den KI-Trend

Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die KI in den Naturwissenschaften behandeln, explodiert. Laut der Elsevier-Studie „AI in Science: Landscape 2024“ hat sich die Zahl der KI-bezogenen Physikpublikationen zwischen 2020 und 2023 mehr als verdoppelt – von 12.800 auf knapp 28.000 Artikel weltweit. Besonders stark ist der Zuwachs in China, den USA und Deutschland.

Gleichzeitig fließen vermehrt Fördermittel: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert seit 2023 gezielt KI-Initiativen in der Physik mit über 60 Mio. Euro pro Jahr. Auch die EU plant im Rahmen von Horizon Europe bis 2027 mehr als 300 Mio. Euro für KI-integrierte Naturwissenschaften bereitzustellen.

Drei Empfehlungen für Forschungsteams, die KI nutzen wollen

  • Datenqualität sichern: KI kann nur so gut sein wie die zugrunde liegenden Daten. Eine saubere, gut annotierte und umfangreiche Datenbasis ist essenziell für akkurate Modelle.
  • Erklärbarkeit fördern: Die Integration von XAI („Explainable AI“) hilft, die Ergebnisse nachvollziehbar zu machen – insbesondere wenn es um Interpretierbarkeit physikalischer Modelle geht.
  • Multidisziplinäre Teams aufstellen: Der erfolgreiche Einsatz von KI in der Physik verlangt Expertise in Physik, Mathematik, Informatik und Statistik. Interdisziplinäre Kollaboration ist entscheidend.

Ein Blick nach vorn: KI als Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses

Die zunehmende Verschmelzung von KI und Naturwissenschaften deutet auf einen tiefgreifenden Wandel in der Arbeitsweise von Forschungsteams hin. Künftig könnten KI-Systeme nicht nur unterstützende Aufgaben übernehmen, sondern aktiv an der Theoriebildung und Experimentplanung beteiligt sein. Projekte wie „Helmholtz AI“ oder das „AI for Science“-Programm von Google DeepMind stoßen hier neue Türen auf.

Zentral dabei: das Vertrauen in Modelle als potenzielle Mit-Entdecker neuer Gesetzmäßigkeiten – nicht als Ersatz für menschliche Kreativität, sondern deren Erweiterung. Die besten Ergebnisse entstehen immer dann, wenn algorithmisches Können mit physikalischer Intuition kombiniert wird.

Die Forschung steht an der Schwelle einer neuen Ära. Eine Ära, in der Supercomputer und Datenmodelle nicht nur rechnen, sondern rekursiv forschen, kombinieren und kreativ „denken“. Es liegt nun an der Wissenschaftsgemeinde, das Potenzial verantwortungsvoll und gezielt zu nutzen.

Wie beurteilen Sie den Einfluss von KI auf die Grundlagenforschung? Hat Ihre Arbeitsgruppe bereits Erfahrungen gesammelt? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren oder teilen Sie Ihre Projekte via #KIundPhysik – wir sind gespannt auf Ihre Perspektiven.

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