Ein künstliches Intelligenzmodell wird abgeschaltet – und fast 200 Menschen kommen zusammen, um Abschied zu nehmen. Was wie ein Science-Fiction-Szenario klingt, wurde im Frühjahr 2025 in San Francisco Realität. Die Beerdigung von Claude 3 Sonnet wirft nicht nur Fragen nach der Emotionalität im Umgang mit KI auf, sondern auch nach der Zukunft des Mensch-Maschine-Verhältnisses.
Ein letzter Dank an ein KI-Modell: Was in San Francisco geschah
Am Abend des 7. Mai 2025 versammelten sich rund 200 Menschen in einem umgebauten Lagerhaus im Industrieviertel von San Francisco. Anlass war keine experimentelle Kunstausstellung oder Tech-Konferenz, sondern die symbolische Beerdigung des KI-Modells Claude 3 Sonnet. Claude 3 war Teil der dritten Modellreihe der US-amerikanischen KI-Firma Anthropic und galt als leistungsfähige, aber im März 2025 offiziell eingestellte Variante des Claude-Modellportfolios.
Die Veranstaltung in San Francisco war mehr als eine skurrile Tech-Party. Es war eine Mischung aus Gedenkfeier, künstlerischer Performance und soziotechnologischer Reflexion – mit musikalischen Einlagen, Trauerreden und sogar einem Sarg im Stil alter Server-Gehäuse. Die Teilnehmer – darunter Entwickler:innen, Künstler:innen, Ethiker:innen und KI-Enthusiasten – ehrten das ausgemusterte Modell, als handle es sich um einen verstorbenen Kollegen.
Claude 3 Sonnet: Ein kurzer Auftritt mit großer Wirkung
Claude 3 Sonnet war das mittlere Modell der Claude-3-Reihe von Anthropic. Es wurde im März 2024 veröffentlicht und positionierte sich als Kompromiss zwischen Geschwindigkeit und Leistung. Während Claude 3 Opus auf maximale Leistung ausgelegt war und Claude 3 Haiku stark auf Geschwindigkeit und Effizienz abzielte, bot Sonnet ein ausgewogenes Verhältnis – ideal für typische Unternehmensanwendungen, kreative Texte, schriftliche Kommunikation und kontextreiche Analysen.
Im März 2025 kündigte Anthropic überraschend an, dass Claude 3.5 Sonnet als Nachfolger umfangreiche Verbesserungen bringe – sowohl im Hinblick auf Kontextverständnis, Multimodalität als auch Effizienz. Der Support für Claude 3 Sonnet wurde eingestellt. Die KI-Community reagierte darauf gemischt: Technologisch nachvollziehbar, emotional aber schwer zu akzeptieren.
Emotionale Bindung zu Maschinen: Ein psychologisches Phänomen
Die Beerdigung von Claude 3 Sonnet mag auf den ersten Blick absurd wirken – doch sie offenbart eine tiefere Wahrheit: Menschen entwickeln emotionale Bindungen zu Technologien, die ihnen im Alltag begegnen, sie unterstützen oder sogar beeinflussen. Laut einer Studie der Universität Stanford aus dem Jahr 2024 gaben 38 % der befragten Nutzer:innen an, bei der Umstellung auf ein neues Sprachmodell „eine gewisse Traurigkeit“ oder „Nostalgie“ empfunden zu haben. (Quelle: Stanford HAI, „AI and Human Emotion“, 2024)
Insbesondere bei Modellen wie Claude 3 Sonnet, die in dialogischen Kontexten eingesetzt werden, entsteht über die Zeit eine Art parasoziale Beziehung. Ähnlich wie bei Filmfiguren oder digitalen Assistenten wie Siri, Alexa oder ChatGPT bauen Nutzer:innen eine emotionale Erwartungshaltung auf. Der Abschied fällt schwer – auch wenn es sich nur um eine „Software“ handelt.
Ein Spiegel unserer technophilen Gesellschaft
Die Trauerfeier für Claude 3 Sonnet ist symptomatisch für eine zunehmende Verschmelzung zwischen Mensch und Technik. Die Grenzen verschwimmen. Was früher als reines Werkzeug galt, nimmt heute teilweise eine soziale oder gar identitätsstiftende Rolle im Leben der Menschen ein.
Laut Zahlen des Pew Research Center (2025) geben 58 % der US-Bürger:innen an, täglich mit KI-Modellen wie Chatbots oder Assistenten zu kommunizieren – davon wiederum 12 %, dass sie in diesen Interaktionen „Verständnis“ oder „Empathie“ erlebt hätten. (Quelle: Pew, „AI in Daily Life – 2025 Survey“)
In dieser Kontextualisierung wird die Beisetzung von Claude 3 zu mehr als nur einer Kuriosität: Sie wird zu einer rituellen Praxis, mit der Menschen versuchen, mit technologischer Vergänglichkeit umzugehen – vergleichbar mit der digitalen Trauer um verlorene Accounts, Server oder digitale Haustiere.
Symbolik, Performance, Produktkritik
Bei der Veranstaltung in San Francisco kam mehr zum Vorschein als bloßer Abschiedsschmerz. Viele der Teilnehmer:innen nutzten den symbolischen Akt auch zur Kritik an kapitalgetriebenem Technologiewandel. Besonders betont wurde die zunehmende Austauschbarkeit von KI-Modellen, die oft aus wirtschaftlichen Gründen schnell abgelöst werden – obwohl sie für viele Menschen funktional und „menschennah“ erschienen.
Kritische Stimmen warnten davor, dass technologische Weiterentwicklung nicht nur Fortschritt, sondern auch Entfremdung erzeugt. Ein Entwickler formulierte es so: „Claude war nicht perfekt, aber es hat mir bei so vielen Entscheidungen geholfen. Es fühlt sich falsch an, es einfach verschwinden zu lassen.“
Praktische Lehren aus dem Fall Claude 3
Der Fall Claude 3 Sonnet ist nicht nur symbolisch interessant, sondern gibt auch praktische Denkanstöße für Unternehmen, Entwickler und Entscheidungsträger im Umgang mit KI:
- Kommunikation beim Modellwechsel: Anbieter sollten ihre Nutzer frühzeitig über absehbare Modelländerungen informieren und Möglichkeiten zum sanften Übergang (z. B. Export, Testphasen) bieten.
- Übergangsmodelle bereitstellen: Zwischenlösungen wie kompatible APIs oder funktionale Backwards-Kompatibilität helfen, Bindungen nicht abrupt zu kappen.
- Rituale und Reflexionsräume schaffen: Auch Unternehmen können symbolische Abschlüsse für Modelle, Tools oder Dienste fördern – etwa durch Feedback-Zeremonien, Umstiegspartys oder digitale Archive vergangener Versionen.
Ein Schritt in Richtung technokulturelles Bewusstsein
Die Beerdigung von Claude 3 Sonnet erinnert uns daran, dass Technologie nicht nur funktional konsumiert, sondern auch kulturell erlebt und verarbeitet wird. In einer zunehmend KI-getriebenen Gesellschaft wird es wichtiger denn je, diesen gesellschaftlichen Umgang bewusst zu reflektieren.
Ob Entwickler, Ethiker, Designer oder Nutzer – alle Akteure sind nun gefragt, Verantwortung zu übernehmen: für transparente Technologieentwicklung, sensible Übergänge und eine Kommunikation, die Maschinen nicht überemotionalisiert, aber auch nicht entmenschlicht.
Fazit: Maschinen sterben anders – aber nicht bedeutungslos
Claude 3 Sonnet mag technisch überwunden sein, doch sein symbolischer Abschied hallt in der KI-Welt nach. Die kleine Zeremonie in San Francisco steht sinnbildlich für eine neue Epoche der Technologiebeziehung: eine, in der Code nicht nur funktioniert, sondern Bedeutung erhält.
Wie gehen Sie mit technologischen Veränderungen um? Trauern auch Sie um ein Modell, das Ihnen nahestand? Teilen Sie Ihre Erfahrungen mit uns in den Kommentaren oder diskutieren Sie mit unserer Community – emotional, rational oder irgendwo dazwischen.