Wie schützt man die Erde vor einem Sonnensturm, der binnen Minuten Satellitennetze lahmlegen und Stromnetze destabilisieren könnte? Die NASA und IBM wollen mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz den entscheidenden Vorsprung gewinnen – und revolutionieren dabei das Weltraum-Wetter-Monitoring.
Ein kosmisches Risiko mit globalen Folgen
Sonnenstürme – fachlich als koronale Massenauswürfe (CMEs) bezeichnet – zählen zu den größten natürlichen Bedrohungen für die technisierte Infrastruktur der Erde. Bei diesen Phänomenen schleudert unsere Sonne Milliarden Tonnen elektrisch geladener Teilchen in den Weltraum. Treffen diese Partikel auf das Magnetfeld der Erde, können sie Kommunikationssysteme, Navigationssatelliten, Stromnetze und sogar Flugzeuge in hohen Breiten beeinträchtigen oder beschädigen.
Das berühmteste Beispiel für die verheerenden Folgen eines Sonnensturms ist das sogenannte Carrington-Ereignis von 1859. Damals versagten Telegrafensysteme auf mehreren Kontinenten. Laut einer Schätzung der US-amerikanischen National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) könnte ein vergleichbarer Sturm heute weltweit wirtschaftliche Schäden in Höhe von bis zu zwei Billionen US-Dollar verursachen.
NASA + IBM: KI zur Weltraumwetter-Prognose
Um dieses Risiko frühzeitig zu erkennen und angemessen zu reagieren, ging die US-Weltraumbehörde NASA Anfang 2024 eine Partnerschaft mit IBM ein. Ziel des gemeinsamen Projekts: Der Einsatz künstlicher Intelligenz, um Sonnenstürme besser vorherzusagen – mit bislang unerreichter Genauigkeit und Geschwindigkeit.
Im Zentrum steht das IBM Foundation Model „Geospatial Foundation Model (GeoFM)“, das ursprünglich für die Analyse erdbezogener Satellitendaten entwickelt wurde. In Zusammenarbeit mit NASA-Forschern wurde es nun so weiterentwickelt, dass es Muster in extrem hochdimensionierten Datensätzen des Sonnenverhaltens erkennen kann. Das Modell basiert auf IBM’s watsonx.ai-Plattform und nutzt Methoden des maschinellen Lernens, um aus historischen CME-Daten, Magnetfeldkonstellationen und Sonnenfleckenzyklen Vorhersagemodelle zu generieren.
Der entscheidende Fortschritt: Das KI-Modell kann bei kritischen Anzeichen für einen Sonnensturm innerhalb weniger Sekunden Alarm schlagen. Frühere Methoden benötigten bis zu 30 Minuten, um vergleichbare Warnungen zu generieren – manchmal schlicht zu spät, um Systeme in Sicherheit zu bringen.
Wie die KI arbeitet: Mustererkennung in Sonnenaktivitätsdaten
Die große Herausforderung bei der Vorhersage solaren Wetters liegt in der Komplexität und Volumen der astronomischen Daten. GeoFM nutzt Datenquellen wie die NASA-Missionen Solar Dynamics Observatory (SDO) und Parker Solar Probe sowie Bodenstationen weltweit. Mithilfe multimodaler Modelle analysiert die KI Spektralmuster, Magnetfeldverzerrungen und zeitliche Cluster-Erkennung, um bevorstehende CME-Aktivitäten zu erkennen. Besonders hervorzuheben ist die Fähigkeit des Systems, sogenannte „Precursor Patterns“ zu identifizieren – Warnmuster, die oft Stunden oder Tage vor einem Sonnensturm auftreten, für klassische Modelle bislang aber nicht erkennbar waren.
Ein Beispiel: Im Mai 2024 identifizierte das neue System ein ungewöhnliches Magnetfeldmuster, das 42 Stunden später mit einem mittelstarken Sonnensturm korrelierte. Keine andere Meteorologische Einrichtung hatte diesen Ausbruch vorhergesagt. Dies markiert einen Meilenstein in der KI-unterstützten Raumwetterdiagnostik.
Potenzial für globalen Infrastruktur-Schutz
Die Kombination aus Rechengenauigkeit, Echtzeit-Fähigkeit und global vernetzter Datennutzung verschafft GeoFM ein riesiges Anwendungspotenzial – insbesondere für kritische Infrastrukturen. Stromnetzbetreiber, Raumfahrtagenturen und Airlines könnten von frühzeitigen Warnmeldungen direkt profitieren. Ebenso die Betreiber von Kommunikationssatelliten, deren Systeme bei starken Sonnenausbrüchen schwer beschädigt werden können.
Laut einer Statistik der European Space Agency (ESA) waren im Jahr 2022 über 70 % aller Satellitenanomalien im Orbit auf Weltraumwetter zurückzuführen. Eine zuverlässige Frühwarnung im Voraus von nur zehn Minuten kann potenziell Schäden in Millionenhöhe verhindern – insbesondere durch das temporäre Abschalten oder Neu-Positionieren von Systemkomponenten.
Experten aus der Energiebranche sehen ebenfalls Vorteile. Ein KI-gestützter Voralarm erlaubt es Netzbetreibern, empfindliche Transformatoren kurzzeitig vom Netz zu nehmen oder alternative Lastverteilungen vorzunehmen. Dies könnte beschädigungsbedingte Blackouts in ganzen Regionen verhindern.
Die Europäische Weltraumorganisation ESA plant aktuell, KI-basierte Vorhersagemodelle auch in ihr „Space Safety Programme“ zu integrieren, das ab 2026 verpflichtender Bestandteil aller europäischen Satellitenbauprojekte wird.
Risiken und technologische Herausforderungen
So vielversprechend die Technologie ist – ganz ohne Herausforderungen ist der Ansatz nicht. Dabei spielen vor allem folgende Punkte eine Rolle:
- Bias und Trainingsdaten: Da große Sonnenstürme selten sind, gibt es nur begrenzte historische Daten. Dies erschwert das Training belastbarer Modelle.
- Interpretierbarkeit: Wie bei vielen Deep-Learning-Modellen bleibt die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsfindung ein Problem. Vertrauen in ein „Black Box“-System muss hart erarbeitet werden.
- Skalierbarkeit: Um alle relevanten Erdbeobachtungsdaten in Echtzeit zu analysieren, benötigt die KI immense Rechenleistungen – dies limitiert momentan noch die vollständige globale Einsatzfähigkeit.
Dennoch zeigen erste Simulationen, dass GeoFM bereits mit einer initialen Datenbasis eine Erkennungsrate von über 89 % für relevante CME-Ereignisse erzielt – deutlich besser als herkömmliche Physikmodelle, die bei rund 60–70 % liegen (Quelle: NASA Solar Physics Division, Juni 2024).
Was Unternehmen und Behörden jetzt tun können
Angesichts zunehmender Sonnenaktivität – der aktuelle elfjährige Sonnenzyklus erreicht 2025 sein Maximum – ist die Zeit reif für konkrete Maßnahmen. Unternehmen, Behörden und Betreiber kritischer Infrastrukturen sollten sich auf mögliche Weltraumwetterstörungen vorbereiten – auch unabhängig staatlicher Frühwarnsysteme.
- Integrieren Sie KI-basierte Weltraumwetterdaten in Ihre Sicherheits- und Notfallpläne.
- Evaluieren Sie, ob Ihre Systeme (z. B. Steuerungseinheiten, Satellitenverbindungen) für kurze Offline-Schaltungen vorbereitet sind.
- Schulen Sie Entscheidungsträger für schnell ablaufende Gefahrenszenarien wie geomagnetische Stürme.
Darüber hinaus sollten Staaten und internationale Organisationen gemeinsam Standards für Weltraumwetterwarnungen entwickeln – ähnlich wie bei Tsunami- oder Erdbeben-Warnsystemen. Nur durch klare Kommunikationsketten und interoperable Dateninfrastrukturen kann das volle Potenzial der KI-Technologie ausgeschöpft werden.
Ausblick: KI als Sensor unserer Sonnenumwelt
Die Zusammenarbeit der NASA mit IBM markiert einen Wendepunkt im Umgang mit Sonnenaktivität. Was einst als nicht vorhersehbar galt, wird durch künstliche Intelligenz zunehmend kalkulierbar. Die Perspektive reicht dabei weit über Sonnenstürme hinaus: Ähnliche Modelle könnten künftig auch für andere kosmische Risiken – etwa Asteroiden oder Weltraumtrümmer – eingesetzt werden.
Bislang ist das System zwar noch nicht flächendeckend im globalen Einsatz, doch die Planungen laufen auf Hochtouren. Langfristig könnte daraus ein globales, KI-gestütztes Frühwarnnetz entstehen, das Weltraumwetter, erdnahe Orbitrisiken und geophysikalische Phänomene in Echtzeit analysiert und kommuniziert.
Die Sonne lässt sich nicht kontrollieren – aber mit KI kann ihre Wirkung beherrschbarer werden. Welche Chancen und Fragen seht ihr in diesem Ansatz? Diskutiert mit uns in den Kommentaren – oder teilt eure Perspektive in unserer Tech-Community #SpaceAI!