Ein neues Rechenzentrum im Gießener Gewerbegebiet Katzenfeld verspricht nicht nur technologische Infrastruktur auf höchstem Niveau, sondern auch hunderte neue Arbeitsplätze – doch wie realistisch ist der erhoffte Wirtschaftsboom? Und was bedeutet das für die lokale Energiewende?
Ein gigantisches Infrastrukturprojekt für Mittelhessen
Im Süden von Gießen, im neu erschlossenen Gewerbegebiet ‚Katzenfeld‘, soll ab Frühjahr 2026 ein hochmodernes Rechenzentrum entstehen. Hinter dem Projekt steht ein gemeinsames Vorhaben von CBRE Data Centres Solutions und einem internationalen Investorenkonsortium. Die Stadt Gießen rechnet mit Gesamtinvestitionskosten von über 450 Millionen Euro – ein massiver wirtschaftlicher Impuls für die Region.
Geplant ist ein Campus mit über 45.000 Quadratmetern Nutzfläche, verteilt auf mehrere modulare Rechenzentrumsgebäude. In der vollen Ausbaustufe sollen Leistungen jenseits von 70 Megawatt (MW) bereitgestellt werden – und das auf Basis grüner Energieversorgung gekoppelt mit einem innovativen Wärmerückgewinnungssystem.
600 neue Jobs: Ein realistisches Ziel?
Die größten Hoffnungen verbinden sich mit der Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Stadt nennt in ihren Planungen eine Zahl von bis zu 600 neuen Stellen in Betrieb, Wartung, Verwaltung, Sicherheit und IT-Dienstleistungen sowie im Umfeld des Rechenzentrums. Eine durchaus optimistische Prognose, sagen Branchenexperten.
„Die Zahl von 600 Arbeitsplätzen ist möglich, wenn auch nicht ausschließlich im Rechenzentrumsbetrieb selbst“, sagt Dr. Johannes Kröger, Arbeitsmarktexperte am Institut der deutschen Wirtschaft (IW). „Der direkte Betrieb moderner Rechenzentren ist hoch automatisiert. Zusätzliche Jobs entstehen im Facility Management, Ausbau der Netzwerkinfrastruktur und vor allem durch Dienstleister in der Region.“
Ein Blick auf vergleichbare Projekte bestätigt diese Einschätzung. So hat das Rechenzentrum in Biere (Sachsen-Anhalt) im IBM/RZ-Konsortium rund 300 direkte sowie weitere 200 indirekte Arbeitsplätze geschaffen – bei weniger installierter Leistung. Gießen könnte also durchaus auf ähnliche Werte hoffen, besonders durch Kooperationen mit der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) und lokal ansässigen IT-Dienstleistern.
Wirtschaftliche Wirkung: Mehr als nur Serverfarmen
Ein leistungsstarkes Rechenzentrum ist nicht nur ein Datenverarbeiter – es ist Magnet für digitale Infrastruktur, Glasfaserausbau, Cloud-Service-Ökosysteme und Industrie 4.0. Der Standortvorteil für Gießen liegt auf der Hand: Zentrale Lage in Deutschland, Nähe zur Rhein-Main-Region, gutes Glasfasernetz und moderate Grundstückspreise.
Laut Bitkom könnten bis 2030 mehr als 3.000 neue Rechenzentren in Deutschland notwendig werden, um den steigenden Bedarf durch Cloud-Dienste, KI-Anwendungen und Industrie-Digitalisierung zu decken. Für Sekundärstandorte wie Gießen bedeutet das eine historisch einmalige Chance zur Positionierung als Digitalhub.
„Regionale Rechenzentren sind Herzstücke zukünftiger digitaler Souveränität. Wer jetzt investiert, wird zum Innovationstreiber“, erklärt Susanne Dehmel vom Bitkom-Vorstand.
Abwärme statt Verschwendung: Wärme für 4.000 Haushalte
Ein zentrales Nachhaltigkeitselement des Gießener Projekts ist das geplante Abwärmenutzungskonzept. Rechenzentren setzen heute bis zu 90 % der aufgenommenen Energie in Wärme um – bislang meist ungenutzt. In Gießen soll diese Abwärme erstmals direkt in das Fernwärmenetz eingespeist werden.
In Zusammenarbeit mit den Stadtwerken Gießen ist ein Wärmetauscherkonzept geplant, das bis zu 25 Megawatt thermische Leistung generieren und damit jährlich rund 4.000 Haushalte mit Wärme versorgen könnte. Eine zentrale Energiezentrale der Stadtwerke entsteht unweit des Geländes.
Ein Beispiel für gelungene Synergien: Laut einer Studie der Deutschen Energie-Agentur (dena) könnte durch intelligente Nutzung von Rechenzentrumsabwärme bundesweit das Potenzial von 750.000 Tonnen CO₂ jährlich eingespart werden.
„Es ist höchste Zeit, Rechenzentren nicht als Energiesünder zu sehen, sondern als Bestandteile der Wärmewende“, so Michael Maxelon, Geschäftsführer der Stadtwerke Gießen.
Die Bundesregierung fördert seit 2024 im Rahmen des Energieeffizienzgesetzes (§ 16) die Verwertung von Abwärme aus Rechenzentren. Für neue Anlagen besteht sogar eine verbindliche Nutzungspflicht ab einer Leistung von 100 kW.
Regionale Herausforderungen: Infrastruktur, Akzeptanz, Energie
So attraktiv das Projekt wirkt – es gibt auch Herausforderungen. Der gewachsene Druck auf die Energieversorgung, begrenzte Flächenressourcen und die steigende Nachfrage nach qualifizierten IT-Fachkräften sind Themen, die auch Gießen nicht unberührt lassen.
Eine der größten Hürden ist der zusätzliche Strombedarf. Mit 70 MW Leistung benötigt das Rechenzentrum fast so viel wie 40.000 Haushalte. Laut Netzbetreiber Avacon ist der Ausbau der Stromnetze samt Integration erneuerbarer Energien zwingend notwendig. Die Stadt plant den Bau eines neuen Umspannwerks, verbunden mit einem 110-kV-Anschluss an das überregionale Hochspannungsnetz.
Auch das Thema Flächenkonkurrenz sorgt für Diskussionen. Gewerbegebiete im Umland werden zunehmend für Logistik- oder Rechenzentrumsnutzung eingeplant. Die Bürgerinitiative ‚Lebenswertes Gießen Süd‘ fordert daher strengere ökologische Begleitmaßnahmen und eine stärkere Bürgerbeteiligung.
Welche Vorteile entstehen für lokale Unternehmen?
Für mittelständische Unternehmen und Start-ups in Gießen bietet das Rechenzentrum enormes Potenzial. Cloud-Konnektivität, Low-Latency-Infrastruktur und Rechenleistung on-demand schaffen technologische Vorteile. Zudem sind Kooperationen mit Lehrstühlen der THM und praxisnahe Ausbildungsprogramme für IT-Berufe geplant.
Ein weiteres Argument ist die Datensouveränität. Regionale Unternehmen können ihre Daten rechtssicher nach DSGVO innerhalb ihrer Region speichern, ohne auf Hyperscaler im Ausland angewiesen zu sein.
Drei Handlungsempfehlungen: So profitieren Kommunen nachhaltig von Rechenzentren
- Frühzeitige Bürgerbeteiligung und transparente Kommunikation: Vermitteln Sie die Vorteile für die Region klar und antworten Sie auf Bedenken in frühzeitigen Infoformaten und Bürgersprechstunden.
- Verknüpfung mit lokalen Ausbildungs- und Forschungsinitiativen: Kommunen sollten Rechenzentren aktiv mit Hochschulen, Berufsschulen und lokalen IT-Unternehmen vernetzen.
- Aktive Integration in die Energie- und Klimapolitik: Durch obligatorische Abwärmenutzung, Solarstrom und grünen Netzstrom lassen sich ökologische Effekte maximieren.
Fazit: Digitale Infrastruktur als Zukunftschance
Das Rechenzentrumsprojekt in Gießen zeigt: Digitale Infrastruktur kann viel mehr sein als ein Standort für Server. Sie kann Katalysator für Arbeitsplatzschaffung, Klimaschutz und regionale Wirtschaftsentwicklung zugleich sein – wenn Planung, Technologieeinsatz und Kommunikation stimmen.
Die Karten sind gemischt – nun liegt es an Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, dieses Potenzial zu entfalten. Was denken Sie? Nutzen oder Bürde für Gießen? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren!