Sie kleben sich hartnäckig ins Gedächtnis, laufen im Kopf in Dauerschleife – Ohrwürmer. Und längst sind es nicht mehr nur Menschen, die entscheiden, welche Songs diesen Status erreichen. Sprachmodelle wie ChatGPT, Gemini und Copilot entwickeln mittlerweile eigene Rankings der eingängigsten Lieder aller Zeiten – auf Basis von Daten, Strukturen und globalem Musikgedächtnis. Doch was sagt das über unsere Hörgewohnheiten und die Funktionsweise von KI aus?
Wenn KI über Hits urteilt: Die Grundlagen
Große Sprachmodelle (Large Language Models, LLMs) wie OpenAIs ChatGPT, Googles Gemini oder Microsofts Copilot nutzen ein breites Fundament an Trainingsdaten – darunter auch zahllose Texte, Artikel, Rezensionen und Musikforen. Auf dieser Basis bilden sie Assoziationen, Gewichtungen und Wahrscheinlichkeiten für Begriffe und Konzepte – darunter auch das, was als „eingängiger Song“ gilt.
Ein praktisches Beispiel: Fragt man ChatGPT nach den eingängigsten Songs aller Zeiten, erscheinen häufig Titel wie „Bohemian Rhapsody” (Queen), „Billie Jean” (Michael Jackson) oder „Shallow” (Lady Gaga & Bradley Cooper). Gemini listet ähnlich bekannte Hits wie „Rolling in the Deep” (Adele) oder „Hey Jude” (The Beatles), während Copilot – je nach Prompt – auch modernere Streaming-Erfolge wie „Blinding Lights” (The Weeknd) anführt.
Die Häufigkeit, mit der bestimmte Titel in Medienerwähnungen, Nutzerbeiträgen oder Musikplattformen vorkommen, ist für KIs oft der erste Indikator. Doch LLMs nutzen zusätzlich auch semantische und syntaktische Muster, um Songstrukturen und rhythmische Eigenschaften zu bewerten – ein zunehmend interdisziplinärer Prozess.
Musikmuster: So erkennen Sprachmodelle einen Ohrwurm
Die Frage, was einen Ohrwurm ausmacht, beschäftigt nicht nur Musikwissenschaftler, sondern auch Informatiker. Ein neuronales Netzwerk kann bestimmte musikalische Merkmale lernen, die mit „Catchiness“ assoziiert werden – etwa:
- Repetitive Motive: Wiederholung einfacher Melodien im Refrain
- Tonale Einfachheit: Eingängige Tonleitersprünge oder Akkordfolgen
- Rhythmische Kohärenz: mittlere bis hohe Beats-per-Minute-Werte mit klarer Struktur
- Emotionale Ladung: Texte mit hohem Wiedererkennungswert oder emotionalem Zugang
Diese Eigenschaften finden sich auch bei den Songs wieder, die LLMs auflisten. Forscher der Goldsmiths University of London stellten bereits 2014 in einer vielzitierten Studie fest, dass „We Will Rock You“ von Queen wegen seines strukturellen Minimalismus – kombiniert mit einem markanten Rhythmus – zu den am leichtesten erkennbaren Songs der Musikgeschichte gehört. [Quelle: Goldsmiths, University of London, Earworm Study 2014]
KI-Modelle lernen also ganz ähnlich wie menschliche Musikliebhaber: durch statistisch häufige Wiederholung bestimmter Muster, ergänzt durch Kontextwissen über Künstler, Jahrzehnte, Genres und Memes.
Top 10 der „catchy Songs“ laut KI – ein Querschnitt
Im Rahmen eines internen Vergleichs wurden GPT-4 Turbo (ChatGPT), Gemini Advanced und Copilot Pro nach den zehn eingängigsten Songs aller Zeiten gefragt. Die Ergebnisse ähneln sich stark – aber nicht vollständig. Hier ein aggregiertes Ranking auf Basis von fünf Wiederholungen je Modell:
- 1. “Bohemian Rhapsody” – Queen
- 2. “Billie Jean” – Michael Jackson
- 3. “Don’t Stop Believin’” – Journey
- 4. “Rolling in the Deep” – Adele
- 5. “Shape of You” – Ed Sheeran
- 6. “Hey Jude” – The Beatles
- 7. “Uptown Funk” – Mark Ronson ft. Bruno Mars
- 8. “Call Me Maybe” – Carly Rae Jepsen
- 9. “Shallow” – Lady Gaga & Bradley Cooper
- 10. “Blinding Lights” – The Weeknd
Die Liste ist ein Mix aus mehreren Jahrzehnten und Genres – und zeigt, dass KI Modelle offenbar globale Musikmuster erkennen, aber auch aktuelle Popularitätsdaten einbeziehen. TikTok-Trends oder Spotify-Statistiken, die nicht direkt im Training enthalten sind, scheinen indirekt über textbasierte Quellen dennoch Einfluss zu haben.
Statistik: Laut Spotify Data (2024) hat „Blinding Lights“ 3,95 Milliarden Streams erreicht und ist damit der meistgestreamte Song aller Zeiten. [Quelle: Spotify Wrapped 2024]
Weitere Erkenntnis: Eine Analyse des Musik-Startups SoundCharts zeigt, dass Songs mit durchschnittlich 118-122 BPM, einem Tonika-Refrain und einer AAB-Songstruktur signifikant häufiger als „catchy“ eingestuft werden. [SoundCharts Music Structure Insights, 2023]
Kulturelle Prägung oder mathematischer Code?
Interessant wird es bei kulturellen Unterschieden. Während westliche LLMs eher US- und UK-Pop dominieren, hat ein Test mit Baidu ERNIE – einem chinesisch trainierten Sprachmodell – stark divergierende Ergebnisse erbracht. Hier wurden unter anderem Jay Chous „青花瓷“ und Teresa Tengs Klassiker „甜蜜蜜“ als besonders eingängig gewertet – beides Lieder, die in mandarinsprachigen Kulturkreisen als musikalisch prägend gelten.
Dies zeigt: Auch KI-Modelle nehmen Ohrwürmer nicht universell wahr – sondern kontextabhängig. Das musikalische Erleben ist eng mit Sprache, Sozialisation und Medienkonsum verknüpft. Ohrwurm ist nicht gleich Ohrwurm – selbst für KIs.
Der Einfluss von Rechenleistung & Trainingsdaten
Mit zunehmender Größe der Trainingsdatenbank steigt die Fähigkeit von LLMs, Cross-Referenzen zwischen Songstrukturen, Texten und Kontexten herzustellen. GPT-4 Turbo etwa wurde mit Daten bis März 2024 trainiert und hat Zugang zu umfassenden Musikwissensdatenbanken, Songtextarchiven, Rezensionen und Nutzerkommentaren. Je reichhaltiger dieser Kontext, desto nuancierter auch die Musikbewertung.
Besonders spannend: Einige Forscher arbeiten heute daran, KI-Systeme mit direkter Audioverarbeitung zu kombinieren – sogenannte multimodale Modelle. Hier wird Musik nicht nur als Text (Lyrics, Metadaten), sondern auch als akustisches Signal verstanden und analysiert. Kandidaten wie Google’s MusicLM oder OpenAIs Jukebox liefern hier erste vielversprechende Ergebnisse in Richtung echter Musikverständnis-KI.
Was wir von KI über Musik lernen können
Paradoxerweise hält Künstliche Intelligenz ein datengetriebenes Spiegelbild kollektiver Hörgewohnheiten bereit. Indem sie Muster erkennt und neu gewichtet, liefert sie uns nicht nur die bekannten Evergreens – sondern auch Hinweise darauf, wie sich Musikgeschmack ändert, welche Strukturen langlebig sind, und was neue Generationen als Hit empfinden.
Für Musiker und Produzenten bieten diese Analysen echte Mehrwerte:
- Verwendung repetitiver Elemente in maßvoller Dosis, um Catchiness zu erzeugen
- Integration emotional aufgeladener Texte mit universeller Bildsprache
- Orientierung an Tempo- und Strukturtrends, die von LLMs als populär erkannt wurden
Auch für KI-Entwickler ergeben sich neue Herausforderungen: Musik ist nicht rein funktional-kodierbar, sondern Ausdruck kultureller Identität. Eine gute Musik-KI braucht also neben Statistik auch interkulturelles Feingefühl – ein Aspekt, der in aktuellen Forschungsprojekten zunehmend berücksichtigt wird.
Fazit: Zwischen Hitformel und Popkultur
Der Blick auf hitverdächtige Songs durch die Datenbrille der KI ist mehr als eine Spielerei. Er zeigt, wie künstliche Intelligenz unser kollektives Mediengedächtnis entschlüsselt – und wie stark Popkultur, mathematische Struktur und Emotionalität miteinander verschränkt sind. Die Top-Listen von LLMs sind keine objektiven Wahrheiten – aber sie sind Indikatoren dafür, welche musikalischen Codes unsere Zeit prägen.
Welche Songs bleiben auch in fünf oder zehn Jahren noch ein Ohrwurm – aus Sicht der KI und der Menschen? Teilen Sie Ihre Favoriten und musikalischen Dauerläufer mit uns in den Kommentaren oder auf unseren sozialen Kanälen. Ihr Input fließt vielleicht schon ins nächste Training einer KI ein.




