Offene Wissenschaft galt lange als akademisches Ideal. Doch immer mehr Regierungsorganisationen und Unternehmen erkennen das strategische Potenzial offener Forschungs- und Entwicklungspraktiken. Vorreiter wie die NASA zeigen, wie Open Science produktive Innovation, Transparenz und globale Kollaboration in Forschungsökosysteme bringen kann. Was davon lässt sich auf die Industrie übertragen?
Open Science: Ideologie trifft auf Technologie
Der Begriff „Open Science“ beschreibt eine Bewegung, die auf Offenheit, Transparenz und Zugänglichkeit wissenschaftlicher Informationen und Prozesse abzielt. Sie umfasst freie Verfügbarkeit von Publikationen und Forschungsdaten, offene Bewertung, partizipative Wissenschaft sowie reproduzierbare Methoden. Unterstützt durch digitale Infrastrukturen, APIs, Cloud-Technologien und kollaborative Plattformen, gewinnt Open Science zunehmend an Bedeutung – nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Industrie.
Die Europäische Kommission betont in ihrem Open Science Monitor, dass “offene Forschungspraktiken zu effizienterer und vertrauenswürdigerer Wissenschaft führen können” (EU, 2022). Gleichzeitig hat sich das White House Office of Science and Technology Policy (OSTP) im August 2022 dazu verpflichtet, ab 2026 sämtliche öffentlich finanzierte Forschung sofort und vollständig zugänglich zu machen.
Die NASA als Open-Science-Vorreiter
Die US-Raumfahrtbehörde NASA geht in Sachen Open Science seit Jahren konsequent voran. Mit der Initiative „Open-Source Science for NASA“ (OS2) verankert die Organisation Open Science als zentrales Element ihrer wissenschaftlichen Mission. Das Ziel: Wissenschaft demokratisieren, öffentlich zugänglich machen und durch globale Teilhabe beschleunigen.
2021 veröffentlichte die NASA ihre Open Source Science Initiative Strategy, die eine radikale Veränderung der wissenschaftlichen Infrastruktur vorsieht: Öffnung von Forschungsdaten, offene Algorithmen, freie Softwareentwicklung sowie der Aufbau eines interdisziplinären Netzwerks zur Kollaboration. Projekte wie das NASA Earthdata Portal oder das Astrophysics Data System (ADS) liefern exemplarische Datennutzung, an der sich andere orientieren können.
Ein zentrales Konzept ist dabei das „Five Percent Goal“: Mindestens fünf Prozent des Budgets aller NASA-Wissenschaftsprogramme sollen gezielt in Open-Science-Aktivitäten investiert werden. Dieses Commitment erzeugt reale Wirkung: So nutzen weltweit über 2 Millionen Wissenschaftlerinnen und Entwickler monatlich NASA-Daten (NASA, 2023).
Offene Prinzipien, harte Wirkung: Was Unternehmen übernehmen können
Auch für die Privatwirtschaft birgt Open Science enormes Potenzial. Technologien reifen heute schnell, komplexe Systeme erfordern interdisziplinäres Wissen, Patente bremsen oft den Technologietransfer. Open-Science-Ansätze können genau hier ansetzen:
- Transparenz erhöht Vertrauen: Durch offene Entwicklung lassen sich Produkte nachvollziehbar machen – ein Vorteil in regulierten Branchen wie HealthTech oder Finanzen.
- Wissen skalieren: Offene Daten- und Modellplattformen ermöglichen es Unternehmen, schneller neue Erkenntnisse mit existierendem Know-how zu kombinieren.
- Innovation durch Teilhabe: Open Collaboration erlaubt neue Formen der Zusammenarbeit – mit anderen Firmen, der Wissenschaft oder der Open-Source-Community.
Ein gutes Beispiel liefert das Pharmaunternehmen Roche, das seit den 2020er-Jahren verstärkt auf „Open Innovation“ in der Wirkstoffforschung setzt. Die Plattform Open Targets, an der u. a. auch die EMBL-EBI und GSK beteiligt sind, nutzt offene Genomdaten zur Identifikation vielversprechender Zielstrukturen.
Erfolgskriterien für offenen Technologietransfer
Damit Open Science in der Industrie nicht Wunschdenken bleibt, braucht es gezielte Umsetzungsstrategien. Folgende Leitlinien haben sich dabei als entscheidend erwiesen:
- Dokumentation als Kernkompetenz: Reproduzierbarkeit setzt hervorragende Beschreibung von Daten, Code und Methoden voraus.
- Interoperabilität: Technische Infrastruktur muss offene Standards, APIs und Versionierung ermöglichen.
- Digitale Verantwortlichkeit: Datenschutz, Urheberrechte und ethische Fragen benötigen klare, transparente Governance-Regeln.
Hinzu kommt: Die Unternehmenskultur selbst muss Offenheit zulassen. Die NASA verankert etwa Open Science in Zielvereinbarungen ihrer Wissenschaftler und misst Fortschritt regelmäßig – eine Taktik, die auch Unternehmen übernehmen könnten.
Open-Source-Software spielt zudem eine zentrale Rolle: In der Industrie liegt der Anteil quelloffener Anwendungen im Enterprise-Bereich laut der Synopsys Global OSS Report 2024 bei 96 %. Doch nur 49 % der untersuchten Codebasen dokumentieren Sicherheitspatches ausreichend (Synopsys, 2024). Hier zeigt sich: Transparenz allein reicht nicht – sie muss systematisch gepflegt und gefördert werden.
Chancen in Zukunftsbranchen: Umwelt, KI, Raumfahrt
Einige Branchen zeigen bereits heute, wie Open Science zur treibenden Innovationskraft werden kann:
1. Umwelt- und Klimaforschung: Unternehmen wie Microsoft und Amazon investieren in offene Geodaten und Satellitenbilder zur Verbesserung von Klimamodellen. Plattformen wie Planetary Computer ermöglichen Forschenden und Unternehmen weltweit Zugang zu Umweltmodellen. Die NASA selbst betreibt mit Earthdata eine der umfangreichsten offenen Klimadaten-Infrastrukturen der Welt.
2. Künstliche Intelligenz: Die Entwicklung großer Sprachmodelle wie GPT, LLaMA oder Mistral zeigt: Open Source kann zu Hochleistungsmodellen führen. Meta veröffentlichte 2023 LLaMA 2 unter freier Lizenz – ein Signal für kollaborative KI-Entwicklung in der Industrie.
3. Raumfahrt: Neben der NASA setzen auch kommerzielle Akteure wie SpaceX, Planet Labs oder Open Cosmos auf Daten-Sharing und CoOP-Entwicklung – etwa bei der Erfassung von Erdbeobachtungsdaten oder CubeSat-Technologien.
Was Unternehmen konkret tun können
- Open-Science-Roadmap erstellen: Unternehmen sollten prüfen, welche Bereiche (z. B. Daten, Modelle, Hardware) sich für Öffnung eignen und dazu einen strukturierten Plan entwickeln.
- Partnerschaften aufbauen: Der Erfolg offener Wissenschaft hängt von Netzwerken ab. Kooperationen mit Universitäten, Forschungseinrichtungen oder Open-Source-Communities sind essenziell.
- Interne Kultur entwickeln: Offene Wissenschaft braucht Vertrauen, Lernbereitschaft und Prozessorientierung. Leadership spielt eine aktive Rolle bei der Umsetzung.
Herausforderungen auf dem Weg zur Open Industry
Trotz aller Potenziale ist Open Science kein Selbstläufer in der Wirtschaftswelt. Kritische Punkte umfassen:
- Wettbewerbslogik: Unternehmen fürchten Verlust von Vorsprung oder Patentfähigkeit.
- Rechtliche Hürden: Urheberrecht, Lizenzierung und Daten-Governance sind komplex.
- Qualitätssicherung: Ohne Standards kann Offenheit zu Irrtümern oder Missbrauch führen.
Dennoch entstehen zunehmend hybride Modelle: „Partially Open Science“, die bestimmte Daten oder Komponenten freigibt, ohne komplette IP aufzugeben. Plattformen wie GitHub, Hugging Face oder Kaggle beweisen, wie produktiv kontrollierte Offenheit sein kann.
Fazit: Offen denken, nachhaltig innovieren
Die NASA beweist, dass Open Science kein akademischer Idealismus, sondern ein konkreter Innovationsmotor ist. Für Unternehmen bedeutet das: Offene Strukturen fördern Geschwindigkeit, Vertrauen und Wirkung – unter zwei Voraussetzungen: strategische Steuerung und kultureller Wandel.
Die Zukunft von Forschung und Entwicklung liegt in gemeinsamer Skalierung. Wer bereit ist, zumindest Teile seiner Daten, Modelle oder Erkenntnisse zu öffnen, kann davon technologisch wie ökonomisch profitieren.
Diskutieren Sie mit uns: Welche Erfahrungen konnten Sie mit offenen Entwicklungsprozessen im Unternehmenskontext sammeln? Wo sehen Sie Chancen oder Grenzen für Open-Science-Praktiken in Ihrer Branche?




