Cloud-Dienste, KI-Modelle und digitale Plattformen prägen zunehmend den betrieblichen Alltag – doch wer kontrolliert die Infrastruktur dahinter? Digitale Souveränität wird für Unternehmen jeder Größe zum strategischen Erfolgsfaktor. Dieser Leitfaden zeigt in acht Schritten, wie Unternehmen ihre digitale Unabhängigkeit zurückgewinnen können.
Was bedeutet digitale Souveränität?
Digitale Souveränität beschreibt die Fähigkeit eines Unternehmens, seine digitalen Infrastrukturen, Datenflüsse, Softwarelösungen und IT-Systeme selbstbestimmt zu kontrollieren. Sie umfasst nicht nur den Schutz sensibler Daten, sondern auch die Unabhängigkeit von einzelnen Herstellern (Vendor Lock-in), cloudbasierten Großanbietern und geopolitisch sensiblen Technologien.
Gerade im Kontext der zunehmenden Abhängigkeit von US-Technologiekonzernen und weltpolitischen Spannungen gewinnt das Thema an Brisanz: Laut Bitkom sehen 74 % der IT-Entscheider in deutschen Unternehmen das Streben nach mehr digitaler Souveränität als strategisch wichtig. Eine Studie des Digitalverbandes aus dem Jahr 2024 belegt außerdem: 62 % der Unternehmen haben Probleme beim Wechsel zwischen Cloud-Anbietern – ein klares Zeichen für bestehende Abhängigkeiten.
Warum digitale Unabhängigkeit strategisch wichtig ist
Digitale Souveränität ist kein Selbstzweck, sondern ein Schlüsselfaktor zur Risikominimierung, Innovation und Resilienz. Unternehmen, die ihre IT-Infrastruktur nicht vollständig kontrollieren, sind verwundbarer gegenüber:
- Zugriffsrestriktionen oder Preisänderungen durch externe Anbieter
- Cyberangriffen auf ausländische Cloud-Infrastrukturen
- Compliance-Risiken bei der Verarbeitung personenbezogener Daten (DS-GVO)
- Lieferkettenunterbrechungen bei kritischer Software
Die EU-Kommission fördert daher mit Initiativen wie GAIA-X seit 2020 eine offene, sichere und interoperable Cloud-Infrastruktur. Ziel: europäische Datenräume für Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung schaffen, die transparent, vertrauenswürdig und technologisch unabhängig sind.
Die acht Schritte zur digitalen Souveränität
1. Digitale Infrastruktur bewerten
Der erste Schritt besteht in einem systematischen Audit der bestehenden IT-Landschaft: Welche Komponenten sind kritisch? Welche Workloads laufen in fremdgesteuerten Umgebungen? Welche externen Anbieter dominieren den Technologie-Stack?
Ein digital souveräner Infrastrukturbereich bedeutet nicht zwingend vollständige Eigenentwicklung – aber bewusste Kontrolle über eingesetzte Tools und Daten.
2. Open Source bevorzugen
Offene Softwarelösungen sind ein zentraler Baustein digitaler Souveränität. Sie bieten Transparenz, rechtliche Klarheit und Flexibilität beim Providerwechsel. Beispiele wie Nextcloud, Matrix oder Kubernetes zeigen: Open-Source-Stacks sind performant, skalierbar und erleichtern Compliance.
Laut OSOR (Open Source Observatory der EU) setzen 90 % der europäischen Behörden und über 65 % der mittleren Unternehmen in bestimmten Bereichen bereits Open-Source-Lösungen produktiv ein – Tendenz steigend.
3. Datenhoheit durch dezentrale Speicherung
Um unabhängig von einzelnen Rechenzentren oder Hyperscalern zu bleiben, setzen viele Unternehmen auf Multi-Cloud- oder hybride Cloud-Strategien. Alternativ gewinnt auch Edge Computing an Bedeutung, um Daten lokal zu verarbeiten.
- Wählen Sie europäische Provider mit klarer Datenschutzkonformität
- Nutzen Sie dezentrale Speichertechnologien zur Erhöhung der Verfügbarkeitsresilienz
- Vermeiden Sie reine Public-Cloud-Abhängigkeiten ohne Exit-Möglichkeiten
4. Interoperabilität durch offene Standards
Abhängigkeiten entstehen häufig durch proprietäre Formate, APIs oder Schnittstellen. Daher gilt: setzen Sie auf offene Standards wie OAuth2, OpenID Connect, SAML, XML oder JSON-LD. Nur so lässt sich technologische Portabilität sicherstellen.
Initiativen wie Sovereign Cloud Stack oder EUCLID bieten Architekturmodelle, um auf offenen Protokollen basierende digitale Infrastrukturen nachhaltig zu realisieren.
5. Kompetenzen im Unternehmen stärken
Digitale Unabhängigkeit braucht Wissen. Neben technischer Expertise zählen vor allem Architektur-Know-how, Security-Kompetenz und strategisches IT-Management:
- Fördern Sie Weiterbildung in DevSecOps, IT-Compliance und hybriden Cloud-Modellen
- Stärken Sie interne Entwicklungskapazitäten und Open-Source-Engagement
- Bauen Sie ein Governance-Modell auf, das Eigenverantwortung ermöglicht
Laut einer PwC-Studie von 2023 sehen 51 % der Unternehmen fehlende Kompetenzen und Ressourcen als größtes Hindernis beim Aufbau souveräner IT-Modelle.
6. Notausstiege planen: Exit-Strategien integrieren
Souveräne Systeme denken von Anfang an das Ende mit: Können Sie problemlos von Ihrem Anbieter migrieren? Gibt es Import-/Export-Funktionalitäten für Ihre Daten und Konfigurationen? Wird auf quelloffene Datenformate gesetzt?
Vendor-Lock-in lässt sich vermeiden durch:
- Modulare Softwarearchitektur mit lose gekoppelten Mikroservices
- Nutzung von Containern und Platform-as-Code
- Regelmäßige Exit-Tests in der Praxis (z. B. Datenmigrationen)
7. Europa als Infrastrukturstandort nutzen
Verlagerung sensibler Daten auf europäische Clouds wie IONOS Cloud, plusserver oder OVHcloud schützt vor dem Zugriff durch den US CLOUD Act. GAIA-X-zertifizierte Anbieter bieten zusätzlich mehr Transparenz über Standort, Datenverarbeitung und Security-Stacks.
Die Initiative unterstützt über 500 Cloud-Projekte europaweit und zielt auf standardisierte, föderierbare Dateninfrastruktur – vor allem für KMU, Gesundheitswesen, Industrie 4.0 und Finanzsektor.
8. Governance und Transparenz verankern
Digitale Souveränität ist kein IT-Projekt, sondern ein struktureller Umbau. Unternehmen brauchen dazu umfassende Richtlinien in Bezug auf Datenschutz, Technologieeinsatz, Drittanbietersteuerung und Auditierbarkeit.
Empfehlenswert ist ein eigenes „Digital Governance Board“ mit CIO, IT-Security und Fachbereichen, um Risiken, Investitionen und strategische Ausrichtungen regelmäßig zu bewerten.
Fallstudien gelungener Umsetzung
1. Stadt Köln: Die Stadt Köln entwickelt ein eigenes digitales Ökosystem auf Open-Source-Basis. Im Rahmen des Souveränitäts-Programms erfolgte ein Umstieg von Exchange-Postfächern auf Matrix für Chats und Jitsi für Video. Gleichzeitig wird die eigene Kubernetes-Infrastruktur sukzessive ausgebaut.
2. UBS Schweiz: Die Großbank verfolgt eine Hybrid-Cloud-Strategie, bei der kritische Finanzdaten im hauseigenen Rechenzentrum verbleiben, während weniger kritische Anwendungen in offenen Multi-Clouds betrieben werden. Compliance-konform, auditierbar und skalierbar.
3. Univention GmbH: Der Bremer Open-Source-Spezialist betreibt souveräne Identitäts- und Serverplattformen, die von Verwaltungen bis Schulen eingesetzt werden – darunter in Baden-Württemberg und Niedersachsen.
Fazit: Der Weg zur Selbstbestimmung beginnt heute
Digitale Souveränität ist kein Ziel, das sich über Nacht erreichen lässt – wohl aber eine strategische Reise, die heute beginnen muss. Unternehmen, die resilient, innovativ und datenschutzkonform bleiben wollen, dürfen technologische Kontrolle nicht länger outsourcen. Es lohnt sich, Schritt für Schritt Verantwortung zurückzuholen – für mehr Sicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Unabhängigkeit.
Welche Erfahrungen habt ihr mit digitalen Souveränitätsstrategien gemacht? Teilt eure Best Practices und Fragen mit uns in den Kommentaren oder kontaktiert die Redaktion für weiterführende Diskussionen und Interviews.




