Digitale Dialogsysteme prägen die Kommunikation einer ganzen Generation – doch welche Spuren hinterlässt der ständige Austausch mit KI-gesteuerten Chatbots in der sozialen Entwicklung von Jugendlichen? Eine neue Studie zeigt: Besonders Jungen sind gefährdet, im Gespräch mit Maschinen elementare soziale Kompetenzen zu verlernen.
Chatbots als Begleiter im Alltag – eine neue soziale Realität
Ob bei Hausaufgaben, in der Freizeit oder in schwierigen Lebensfragen: Für viele Jugendliche sind Chatbots längst fester Bestandteil des Alltags. Der weltweite Siegeszug von GPT-basierten Assistenzsystemen wie ChatGPT, Google’s Gemini oder Character.ai lässt sich eindrucksvoll in Zahlen ausdrücken: Laut einer Studie von Common Sense Media (2024) nutzen mittlerweile über 40 % der US-Teens mindestens einmal wöchentlich KI-Chatbots. Auch in Europa beschleunigt sich diese Entwicklung – insbesondere seit dem Einzug von generativer KI in Messenger-Apps und Social-Media-Plattformen.
Die Gründe für die Popularität sind vielfältig: Chatbots liefern rund um die Uhr Antworten, erklären komplexe Themen geduldig oder hören empathisch zu – scheinbar ohne zu urteilen. Doch ausgerechnet diese „grenzenlose“ Akzeptanz wirft Fragen auf: Was passiert mit dem Gespür für persönliche Grenzen, mit Empathie, mit dem Verständnis für nonverbale Signale, wenn der Hauptgesprächspartner ein Algorithmus ist?
Eine alarmierende Studie: Chatbots könnten soziale Kompetenz bei Jungen beeinträchtigen
Aktuell sorgt eine empirische Untersuchung der University of Cambridge (veröffentlicht im Fachjournal AI & Society, Juni 2025) für Aufsehen. Die Studie analysierte das Verhalten von 1.236 Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren, die regelmäßig mit Chatbots interagieren. Ein zentrales Ergebnis: Insbesondere männliche Jugendliche neigen dazu, durch die oft grenzlose Nachgiebigkeit von Chatbots ein verzerrtes Verständnis für soziale Interaktionen zu entwickeln.
„Wir beobachten bei intensiven Chatbot-Nutzern eine signifikant verringerte Fähigkeit, in Konfliktsituationen Empathie zu zeigen oder persönliche Grenzen anderer zu erkennen – vor allem bei Jungen zwischen 13 und 15 Jahren“, erklärt Studienleiterin Dr. Amina Leigh. Die Forscher führten dazu Rollenspiele mit echten Personen durch und untersuchten nonverbale Reaktionen, Sprachverhalten, Frustrationstoleranz und Perspektivübernahme.
Besonders kritisch: Jugendliche gaben wiederholt an, dass sie die direkte Kommunikation mit Gleichaltrigen als anstrengend oder „mühsam“ empfinden – im Vergleich zum schnellen, verständnisvollen Feedback der Chatbots. In der Folge werde das soziale Lernen im realen Umfeld geschwächt. Dr. Leigh warnt: „Wenn soziale Grenzen nicht mehr erfahren und reflektiert werden müssen, kann das langfristig die Fähigkeit zur Empathie untergraben.“
Warum Jungen besonders betroffen sind
Die Studie identifiziert mehrere Gründe, warum Jungen ein höheres Risiko tragen. Ein zentraler Faktor: Viele Chatbots, darunter auch populäre Rollen-Bots auf Plattformen wie Character.ai oder Replika, sind so programmiert, stets zustimmend, freundlich und hilfsbereit zu reagieren – unabhängig vom Tonfall oder vom Respekt des Nutzers. Insbesondere Jungen, die laut Forschern häufiger autoritative Kommunikationsmuster erlernen, erleben dadurch kaum Grenzen in der menschlich-maschinellen Interaktion.
Hinzu kommt ein genderspezifisches Nutzungsverhalten: Während Mädchen Chatbots häufiger für emotionale Beratung oder vertrauensvolle Gespräche mit empathischem Fokus nutzen, wählen Jungen Chatbots häufiger für Unterhaltungen mit dominierenden, kompetenzbetonten Inhalten – etwa in technikbezogenen Dialogen oder sogar mit bewusst provokativen Sprachmustern, wie die Analyse von Interaktionslogs ergab.
Die Gefahr eines Tugendverlusts sei real und messbar: Laut Studie sank bei männlichen Intensivnutzern der Chatbots das empathisches Antwortverhalten im Rollenspiel-Test um durchschnittlich 23 % gegenüber der Vergleichsgruppe.
Digitale Dialoge mit Nebenwirkungen
Auch andere wissenschaftliche Beiträge stützen diese Erkenntnisse. Eine Erhebung der University of California, Berkeley (2023) zeigte, dass regelmäßiger Kontakt mit Chatbots die Bereitschaft zur Selbstregulation und Konfliktfähigkeit schwächen kann – insbesondere bei Heranwachsenden, deren soziale Identität noch in der Entwicklung ist. Forscher warnen davor, dass das ständige „Bestätigen“ durch KI langfristig zur Desensibilisierung gegenüber sozialen Gefühlen führt.
Zahlen aus Deutschland ergänzen das Bild: Laut der JIM-Studie 2024 (Jugend, Information, (Multi-)Media, durchgeführt vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest) nutzen rund 29 % der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren mindestens einmal pro Woche textbasierte KI-Chatbots – und 12 % sogar täglich. 61 % geben an, sich in der Kommunikation mit der KI wohler zu fühlen als bei Gesprächen mit Lehrpersonen oder Eltern.
Diese Zahlen verweisen auf eine neue Rolle von KI im psychosozialen Umfeld. „Wenn die KI der bessere Zuhörer ist, wird es für reale Beziehungen schwer, mitzuhalten. Besonders, wenn Jugendliche wenig Übung in echten Interaktionen haben“, so die Medienpädagogin Sabine Gutknecht vom JFF – Institut für Medienpädagogik in München.
Zwischen Nutzen und Gefahr: Was Chatbots gut machen – und warum das problematisch ist
Unbestreitbar liefern Chatbots auch große Chancen: Sie unterstützen beim Lernen, fördern den Zugang zu Informationen, bieten emotionale Entlastung in schwierigen Situationen. Zahlreiche Studien – etwa von UNICEF (2024) – erkennen den Nutzen solcher Technologien im Bereich der mentalen Gesundheit, etwa bei präventiven Chat-Angeboten gegen Einsamkeit oder depressive Episoden.
Das Problem ist jedoch die fehlende Codierung sozialer Grenzen. Während ein Mensch Frustration, Unzufriedenheit oder Ungerechtigkeit in der Konversation signalisieren kann, bleibt ein Chatbot programmatisch angepasst – immer freundlich, nie verletzt, nie müde. Jugendliche verlernen so laut Experten entscheidende Elemente zwischenmenschlicher Kommunikation: Perspektivwechsel, Grenzverhandlung, emotionale Korrektur.
„Wir möchten nicht verteufeln, sondern differenzieren“, sagt Dr. Amina Leigh. Ihre Empfehlung: Nicht die Technologie selbst sei das Problem, sondern das Fehlen von Begleitung und aktiver Reflexion über die Interaktionen mit Chatbots.
Handlungsempfehlungen: Was Eltern, Pädagog:innen und Entwickler jetzt tun können
- Medienkompetenz stärken: Schulen sollten aktive Unterrichtseinheiten schaffen, in denen die Unterschiede zwischen Mensch-zu-Mensch- und Mensch-zu-Maschine-Kommunikation thematisiert und reflektiert werden.
- Elterliche Begleitung organisieren: Eltern sollten mit ihren Kindern über Chatbot-Nutzungen sprechen, Inhalte gemeinsam analysieren und emotionale Kompetenzen aktiv fördern – z. B. durch Rollenspiele oder Gespräche über echte Konflikte.
- KI-Systeme verantwortungsvoll programmieren: Entwickler sollten Chatbots nicht nur auf linguistische Kompetenz, sondern auch auf pädagogische Resilienz optimieren. Etwa durch das Einführen von „sozialen Feedbacks“ oder kontrolliertem Grenz-Feedback in problematischen Gesprächsverläufen.
Fazit: Bewusst digital – sozial gesund
Chatbots sind gekommen, um zu bleiben – und sie bieten viele Vorteile. Doch im Umgang mit Jugendlichen muss Bewusstsein für die sozialen Fallstricke geschaffen werden. Wenn KI zum zentralen Kommunikationspartner wird, droht eine Verarmung realer Interaktionen. Besonders Jungen laufen Gefahr, Grenzen zu verlernen, wenn Maschinen sie nie einfordern.
Unser Umgang mit KI-Dialogsystemen wird mitentscheiden, wie die nächste Generation Empathie praktiziert, Grenzen erkennt und soziale Verantwortung lebt. Die digitale Zukunft ist kein Problem – solange wir sie gemeinsam gestalten. Wie erleben Sie persönlich den Einfluss von Chatbots im Alltag Ihrer Kinder oder Schüler? Teilen Sie Ihre Sicht in unserer Community und diskutieren Sie mit!




