Einst waren sie Symbole der Hochtechnologie – heute stehen viele Atomkraftwerke leer. Doch anstatt sie abzureißen, formiert sich ein innovativer Trend: die Umwandlung alter Kernkraftstandorte in moderne Rechenzentren für Künstliche Intelligenz. Ein Vorhaben, das nicht nur ökologisch, sondern auch wirtschaftlich Sinn ergibt.
Vom Atomstrom zur Rechenleistung: Ein Paradigmenwechsel
Der Rückbau von Atomkraftwerken ist aufwendig, teuer und dauert Jahrzehnte. Stattdessen zeichnen sich neue Nutzungsperspektiven ab, die dem digitalen Zeitalter Rechnung tragen. Insbesondere KI-Rechenzentren bieten sich als Folgeinfrastruktur an – sie profitieren von der vorhandenen Netzinfrastruktur, hohen Sicherheitsstandards und großflächigen Grundstücken. Ein prominentes Beispiel ist das geplante Projekt am Standort Neckarwestheim in Baden-Württemberg.
Der Energieversorger EnBW plant dort, gemeinsam mit Partnern, ein hochmodernes Hyperscale-Rechenzentrum zu errichten. Der Rückbau von Block II des AKW Neckarwestheim schreitet voran, doch das Areal bietet ideale infrastrukturelle Voraussetzungen: direkte Anbindung an das Hochspannungsnetz, ausbaufähige Glasfaser, abgeschirmtes Gelände und Nähe zu industriellen Ballungszentren.
EnBW und Neckarwestheim: Ein Pilotprojekt mit Signalwirkung
Laut Aussagen der EnBW, bestätigt im Sommer 2024, wird das Rechenzentrum im Neckarwestheim-Projekt vor allem auf KI-Workloads fokussiert sein. Ziel ist es, eine Kapazität von mehreren Hunderten Megawatt zu erreichen, was dem Verbrauch einer mittleren Großstadt entspricht. Derzeit ist ein Konsortium aus Technologie-, Energie- und Infrastrukturpartnern mit der Projektentwicklung beschäftigt. Die Detailplanung sieht nicht nur Hochleistungsrechner, sondern auch eine Integration regenerativer Energiequellen vor.
Ein wesentliches Argument für diesen Standort: Der Rückbauprozess lässt bestimmte Bereiche des Geländes bereits heute nutzen. Zudem ist das Genehmigungsregime – im Vergleich zu unberührten Neubauflächen – deutlich schlanker. Damit könnte der Standort binnen weniger Jahre betriebsbereit gemacht werden.
EU-Förderung und geopolitischer Kontext
KI-Infrastrukturen gelten in der EU als strategisch relevant – insbesondere im Wettlauf mit den USA und China. Deshalb hat die Europäische Kommission im Rahmen des Digital Europe Programme sowie über den InvestEU-Fonds 2025 neue Förderinstrumente aktiviert. Projekte wie das EnBW-Rechenzentrum profitieren potenziell von Fördermitteln in dreistelliger Millionenhöhe. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Unterstützung, sondern auch um regulatorische Erleichterungen und priorisierte Genehmigungsverfahren.
Auch geopolitisch ist die Umnutzung vormaliger Atomstandorte ein starkes Signal. Sie verdeutlichen, dass man aus der Ära der Kernenergie nicht nur aussteigt, sondern sie transformiert – hin zu einer Dateninfrastruktur, die Europas digitale Souveränität stärken kann.
Die Rolle privater Investoren
Aber nicht nur öffentliche Stellen erkennen das Potenzial. Große Infrastrukturfonds, Private-Equity-Gesellschaften und Technologiekonzerne investieren zunehmend in die neue Standortklasse. Laut dem Analysehaus Synergy Research Group ist der globale Markt für Hyperscale-Rechenzentren 2024 auf über 330 Milliarden US-Dollar angewachsen – mit weiter zweistelligem Wachstum.
Standorte wie Neckarwestheim bieten Investoren erhöhte Planungssicherheit. Flächen sind bereits erschlossen, Strom- und Sicherheitsinfrastruktur vorhanden, kommunale Akzeptanz hoch. Solche Standortvorteile ermöglichen geringere CAPEX-Kosten und eine schnellere Time-to-Market – entscheidende Faktoren im hart umkämpften KI-Markt.
Ein Beispiel: Der auf Rechenzentren spezialisierte Fonds DigitalBridge gab 2024 bekannt, zusammen mit einem europäischen Versorgerinvestor einen dreistelligen Millionenbetrag in ehemalige Atomstandorte zu investieren. Auch Microsoft hat in Schweden ein ähnliches Modell verfolgt – dort entstehen am Standort Ringhals Kapazitäten für GPT-Modelle der nächsten Generation.
Regionale Wirtschaft: Chancen und Herausforderungen
Die Auswirkungen auf die jeweiligen Regionen sind enorm. Wo früher Hochtechnologiearbeitsplätze wegzufallen drohten, entstehen neue Jobs – etwa in der technischen Infrastruktur, Datenökonomie oder Facility Services. Gleichzeitig erzeugt der Betrieb millionenschwerer Rechenzentren auch Herausforderungen: hoher Stromverbrauch, Kühlkonzepte, Flächenkonkurrenz.
Gut geplante KI-Rechenzentren setzen daher zunehmend auf nachhaltige Betriebsmodelle, wie:
- Integration von Wärmerückgewinnung zur Einspeisung in regionale Fernwärmenetze
- Verwendung von gekühltem Oberflächenwasser zur energieeffizienten Kühlung
- Erzeugung von Strom über angeschlossene Wind- und Solarfarmen
Gemäß einer Studie des Borderstep Instituts (2024) könnten bis 2030 bis zu 30.000 neue Arbeitsplätze durch Edge- und Hyperscale-Data Center in Deutschland entstehen. Bei angemessener Planung wird also nicht nur alter Industriestandort revitalisiert, sondern auch die Versorgungssicherheit für KI-Anwendungen auf nationaler Ebene gestärkt.
Technologische Anforderungen an neue Rechenzentren
KI-basierte Anwendungen – etwa Large Language Models, neuronale Netze oder semantische Suchen – stellen besondere Anforderungen: Sie benötigen GPUs statt klassischer CPUs, schnellen NVMe-Speicher, redundante Netzanbindungen sowie maximale Energieeffizienz.
Laut dem Data Center Energy Report 2024 (Uptime Institute) verbrauchten Rechenzentren im Jahr 2023 weltweit rund 3 % des gesamten Stroms – Tendenz steigend. Gleichzeitig betonen Experten die Notwendigkeit einer „grünen KI-Infrastruktur“. Der PUE-Wert (Power Usage Effectiveness) gilt dabei als zentrale Metrik. Top-Standorte erreichen Werte von 1,1 oder besser – mehr als doppelt so effizient wie Standardlösungen.
Die Transformation ehemaliger Kraftwerksstandorte vereinfacht eine solche Auslegung erheblich: große Freiflächen erlauben modulare Bauweise, Netzanbindung ist redundant, meist sind Netzanbindungen mit über 110 kV bereits vorhanden.
Praktische Tipps für Kommunen und Infrastrukturplaner
Viele Kommunen mit stillgelegten Kraftwerksarealen stehen vor ähnlichen Überlegungen. Wie also gelingt der Wandel hin zum Rechenzentrum?
- Frühzeitige regionale Stakeholderbeteiligung schaffen – durch Workshops, Gemeinderatssitzungen und Wirtschaftsförderung
- Engmaschige Koordination mit Netzbetreibern und Energieversorgern zur Sicherstellung von Stromkapazität und Lastmanagement
- Überprüfung von Förderprogrammen wie IPCEI (Important Projects of Common European Interest), Digital Europe Programme und InvestEU
Wichtig ist zudem eine strategische Standortvermarktung. Fachkräfte, Investoren und Technologieunternehmen müssen gezielt angesprochen werden, um den Rechenzentrumsausbau in strukturschwachen Regionen erfolgreich zu machen.
Ein Blick in die Zukunft – zwischen Infrastruktur und Algorithmus
Mit der Weiterentwicklung von KI – etwa durch multimodale Modelle, autonome Agentensysteme oder selbstorganisierende Cloud-Intelligenzen – steigt der Bedarf an Rechenzentren rasant. Gleichzeitig werden sie zum Rückgrat aller digitalen Transformationen: in Mobilität, Medizin, Industrie und Verwaltung.
Deutschland und Europa haben die Chance, über die Revitalisierung ihrer Industrieflächen eine führende Rolle einzunehmen. Dabei sind ehemalige Atomkraftwerke nicht nur eine symbolische Brücke in die Zukunft, sondern ein reales Asset im globalen Infrastrukturrennen.
Was denken Sie? Haben stillgelegte AKWs bei Ihnen vor Ort Potenzial als Dateninfrastruktur von morgen? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren oder schreiben Sie an die Redaktion. Die digitale Zukunft beginnt manchmal an den unwahrscheinlichsten Orten.




