Die klassische Redundanzstruktur 2N ist ein Synonym für höchste Ausfallsicherheit in Rechenzentren – doch sie hat ihren Preis. Mit steigendem Druck in Richtung Nachhaltigkeit, Effizienz und Wirtschaftlichkeit gerät dieses Modell zunehmend unter Beschuss. Doch was bedeutet das für die Zertifizierung und Akzeptanz neuer Infrastrukturen?
Redundanz in Rechenzentren: Zwischen Ausfallsicherheit und Ressourcenfrage
Im traditionellen Rechenzentrumsdesign gilt das 2N-Redundanzschema als Goldstandard. Dabei werden alle kritischen Systeme – von Stromversorgung über Kühlung bis hin zur Vernetzung – vollständig dupliziert. Ziel ist maximale Verfügbarkeit selbst im Falle kompletter Teilausfälle der Infrastruktur. Während dieses Paradigma jahrzehntelang als Maßstab für höchste Zuverlässigkeit diente, stellt es in einer Ära, in der Nachhaltigkeitsziele und Energieeffizienz im Vordergrund stehen, zunehmend ein Dilemma dar.
Das Problem: 2N bedeutet in der Praxis, eine vollständig gespiegelte Infrastruktur zu betreiben, die häufig nur im Notfall zum Einsatz kommt. Studien zufolge liegt die durchschnittliche Auslastung von Backup-Systemen in vielen Rechenzentren bei unter 20 %[1]. Für Betreiber stellt sich daher zunehmend die Frage, wie sie sowohl auf Ausfallsicherheit achten als auch effizienter wirtschaften können.
Alternative Redundanzkonzepte im Aufwind
Als Reaktion auf diese Herausforderungen setzen immer mehr Betreiber auf alternative Redundanzmodelle wie N+1, N+2 oder Shared Redundancy. Diese Modelle nutzen strategisch platzierte Reservekapazitäten, teilen Backup-Ressourcen oder setzen auf intelligente Lastverteilung, um sowohl Ausfallsicherheit als auch bessere Ressourcennutzung zu erzielen.
Insbesondere hyperscale Betreiber wie Google, Microsoft oder Amazon haben hybride Redundanzkonzepte entwickelt, die stark auf Software-getriebene Resilienz, intelligente Fehlertoleranz und schnelle Wiederherstellungsverfahren setzen. Dadurch soll das Gleichgewicht zwischen Verfügbarkeit, Effizienz und Kosten optimiert werden.
Auch Edge-Rechenzentren und modulare Architekturen setzen häufig auf Minimal-Redundanzdesigns, um mit geringerer Infrastruktur hohe Verlässlichkeit zu erreichen. Diese Konzepte werfen allerdings zahlreiche Fragen hinsichtlich der angemessenen Zertifizierungslogik auf.
Zertifizierungsstandards unter Druck: Uptime Institute & Co.
Weltweit gelten die Tier-Zertifizierungen des Uptime Institute als maßgeblicher Standard für die Einordnung der Infrastrukturverfügbarkeit in Rechenzentren. Tier III (N+1) und Tier IV (2N) machen klare Vorgaben zu Redundanz- und Toleranzschwellen. Der Trend zur Reduktion traditioneller Redundanzmodelle – insbesondere bei colocation- und cloud-basierten Rechenzentren – stellt diese Klassifizierungsmodelle jedoch zunehmend infrage.
Nach Angaben des Uptime Institute suchen viele Betreiber nach mehr Flexibilität: Statt starrer Schubladen wollen sie clevere Lösungen, die Resilienz dynamisch bewerten und dokumentieren. Laut Uptime Institute Global Data Center Survey 2024 gaben 36 % der Betreiber an, in den nächsten zwei Jahren ihre Redundanzmodelle anpassen zu wollen – nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen[2].
Folgende zentrale Kritikpunkte stehen aktuell im Raum:
- Tier-Modelle berücksichtigen kaum softwarebasierte Resilienzmechanismen
- Innovative Architekturen wie Micro Modular Data Centers fallen durchs Raster
- Die Relevanz von Echtzeit-Monitoring und Predictive Maintenance wird unzureichend gewichtet
Gleichzeitig mehren sich Forderungen an Institutionen wie TÜV, EN 50600, ANSI TIA-942 oder ISO/IEC, ihre Klassifizierungsmodelle zu modernisieren, um dynamische und nachhaltige Betriebsmodelle adäquat abzubilden.
Industriepolitische Spannungsfelder und regulatorische Herausforderungen
Die Debatte hat auch eine industriepolitische Dimension: Energiewende, EU-Green-Deal und die neue EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeit von Rechenzentren (ab 2026) zwingen Betreiber dazu, den Ressourcenverbrauch massiv zu senken. Gleichzeitig verlangt etwa die KRITIS-Verordnung für kritische Infrastrukturen wie Banken, Versorger oder Behörden höchste Ausfallsicherheit.
Ein Dilemma entsteht: Während öffentliche und geopolitische Akteure höchste Redundanz einfordern, zwingen wirtschaftliche und ökologische Vorgaben zur Konsolidierung. Besonders kritisch: Der bestehende Zertifikatsdschungel erschwert die Orientierung für Nutzer und Investoren. Unterschiede zwischen ISO-/IEC-Normen, TÜV-Typisierung, EN 50600 und Uptime Tier Rating erschweren international vergleichbare Aussagen über Verfügbarkeit und Nachhaltigkeit.
Einheitliche EU-weite Nachhaltigkeitskennzeichnungen für Rechenzentren, wie sie im Rahmen des EU Code of Conduct for Data Centres diskutiert werden, könnten Abhilfe schaffen – doch ein verpflichtender Rechtsrahmen fehlt bislang.
Digitaler Wandel verlangt neue Formen der Zertifizierung
Mit dem zunehmenden Einsatz von KI, Big Data und verteilten Architekturen stellen sich neue technische Anforderungen. Resilienz definiert sich heute nicht mehr ausschließlich über physische Überkapazitäten, sondern über:
- Verteilte Workloads mit automatischer Replikation
- Predictive Analytics zur Fehlervermeidung
- Software-definierte Infrastruktur (SDI) und orchestrierte Selbstheilung
Zertifizierungen müssen daher künftig real-time Kennzahlen (z. B. Mean Time Between Failures oder SLA-Erfüllungsgrade) stärker berücksichtigen statt bloß „Redundanz auf dem Papier“. Einige Anbieter – etwa der norwegische Colo-Betreiber Green Mountain – experimentieren mit transparenten Live-Dashboards zur Verfügbarkeitsmessung im Echtbetrieb.
In Deutschland könnte besonders die DIN EN 50600 an Bedeutung gewinnen, da sie energetische und strukturelle Nachhaltigkeit dezidiert mit funktionaler Verfügbarkeit kombiniert. Doch auch hier fehlt es bislang an Dynamik, um den Innovationsdrang der Branche ausreichend abzubilden.
Praxisempfehlungen für Betreiber und Zertifizierer
Um auf die veränderten Markt- und Technologiebedingungen angemessen zu reagieren, ist gemeinsames Handeln von Betreibern, Gesetzgebern und Audit-Institutionen gefragt. Folgende Maßnahmen helfen dabei, Redundanzmodelle zukunftstauglich aufzustellen:
- Hybridzertifizierungen entwickeln: Ergänzen Sie bestehende Zertifikate durch operationale KPIs (z. B. Reaktionszeiten, Live-Ausfallstatistiken).
- Transparent kommunizieren: Zeigen Sie Kunden auf, wie Redundanz- und Verfügbarkeitsstrategien konkret umgesetzt werden, auch ohne 2N.
- Mit Partnern pilotieren: Testen Sie neue Modelle (z. B. Shared Redundancy, Cluster-Failover) im Verbund mit resilienten Cloud-Backends – das erhöht Flexibilität und verringert Investitionsrisiken.
Schlussbetrachtung: Zertifizierung neu denken
Der Abschied vom 2N-Dogma ist kein Rückschritt – sondern Teil eines fundamentalen Wandels hin zu dynamischer, nachhaltiger und intelligenter Resilienz. Um diesem Wandel gerecht zu werden, braucht es mehr als neue Technik – es braucht neue Bewertungsmaßstäbe, realistische KPIs und vor allem: Mut zum Umdenken.
Betreiber, Auditspezialisten und Regulatoren sind aufgefordert, zusammen mit der Community neue Wege zu definieren. Welche Erfahrungen haben Sie mit neuen Redundanzstrategien gemacht? Welche Zertifizierungsansätze halten Sie für zukunftsfähig? Diskutieren Sie mit!
Quellen:
[1] Uptime Institute, Data Center Availability Report 2023
[2] Uptime Institute, Global Data Center Survey 2024




