Ob in der Teilchenphysik, der Molekularbiologie oder der Klimaforschung – Künstliche Intelligenz verändert die Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben wird. Doch während KI-Modelle immer effizienter bei der Entdeckung neuer Zusammenhänge sind, stehen Forschende vor einem neuen Dilemma: Sie verstehen die von Maschinen getroffenen Schlüsse oft nicht mehr vollständig.
KI-gestützte Wissenschaft: Ein Quantensprung in der Datenverarbeitung
Moderne Wissenschaft basiert zunehmend auf der Fähigkeit, riesige Datenmengen zu verarbeiten, zu analysieren und bedeutungsvolle Muster zu erkennen. Künstliche Intelligenz, insbesondere Machine Learning (ML) und Deep Learning (DL), eröffnet neue Möglichkeiten: Die Algorithmen analysieren komplexe Datensätze in nie dagewesener Geschwindigkeit und finden Korrelationen, die menschlichen Forschern verborgen bleiben würden.
So stellte ein KI-Modell an der ETH Zürich im März 2023 eine neue Theorie über Quantenfluktuationen auf, indem es breit gefächerte Datensätze aus Experimenten mit Quantencomputern analysierte. Der Clou: Die Hypothese widersprach etablierten Theorien – und lieferte dennoch exakte Vorhersagen, die in Folgestudien bestätigt wurden.
Laut einer aktuellen Studie von Nature (2024) greifen mittlerweile über 65 % der naturwissenschaftlichen Forschungsprojekte in Europa auf KI-gestützte Tools zurück, insbesondere in den Bereichen Genetik, Materialwissenschaften und Astrophysik. In der Wirkstoffforschung kann KI Entwicklungszyklen von Arzneimitteln im Schnitt um 40 % verkürzen (McKinsey, 2023).
Das Problem des epistemischen Black Box-Modells
So eindrucksvoll die Resultate auch sind – sie werfen ein fundamentales Problem auf: Wenn ein KI-System zu einer Vorhersage oder Entdeckung gelangt, deren innere Entscheidungsfindung für Menschen kaum nachvollziehbar ist, stellt sich die Frage, ob man das Wissen wirklich „besitzt“ oder lediglich „nutzt“.
Forschende sprechen hier von einem epistemischen Black Box-Modell. Insbesondere bei Deep Learning-Netzwerken mit Milliarden Parametern ist der Interpretationsspielraum gering. Ein Beispiel liefert das Stanford Institute for Human-Centered AI: Dort entdeckte ein Transformer-Modell (GPT-4) 2024 ein neues mathematisches Muster in Primzahlen – doch bis heute ist unklar, auf welcher Regelmäßigkeit der Fund beruht.
Der Philosoph Peter Godfrey-Smith bezeichnete diesen Zustand als „Beobachtung ohne Verständnis“. Das stellt die klassische, hypothetisch-deduktive Methode infrage und zwingt die Wissenschaft zu einer methodologischen Reflexion.
Interpretierbarkeit vs. Leistungsfähigkeit: Der Zielkonflikt
Ein zentrales Dilemma liegt im Spannungsfeld zwischen Präzision und Erklärbarkeit. Je leistungsfähiger eine KI in der Vorhersage wird, desto undurchsichtiger sind oft ihre Entscheidungsprozesse. Dieses Problem ist in der Fachliteratur als „Accuracy-Explainability Trade-off“ bekannt.
Ansätze wie Explainable AI (XAI) versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen. Methoden wie SHAP (SHapley Additive exPlanations) oder LIME (Local Interpretable Model-agnostic Explanations) visualisieren, welche Einflüsse einzelne Variablen auf ein per KI erzeugtes Ergebnis haben. Doch gerade bei hochdimensionalen wissenschaftlichen Daten, z. B. Genomsequenzierungen oder quantenmechanischen Zuständen, stoßen selbst XAI-Methoden an Grenzen.
Die Konsequenz: Wissenschaft wird zunehmend zu einem Kooperationssystem zwischen Mensch und Maschine, bei dem das Vertrauen in Modelle die Rolle von Verständnis ersetzt – ein für viele Forschende beunruhigender Gedanke.
Konkrete Auswirkungen auf die wissenschaftliche Praxis
Diese Entwicklung hat handfeste Implikationen für die Praxis:
- Veränderte Forschungslogik: Hypothesen werden nicht mehr ausschließlich aus Theorie abgeleitet, sondern datengetrieben generiert – oftmals ohne erklärbare Kausalität.
- Neue Rollenverteilung: KI erzeugt Resultate, Menschen interpretieren diese im disziplinären Kontext. Das führt zu einem Wandel der wissenschaftlichen Rollen und Kompetenzen.
- Verantwortungsprobleme: Wer trägt die Verantwortung für falsche Schlüsse aus KI-generierten Erkenntnissen? Die Zurechenbarkeit im Forschungsprozess wird zunehmend komplexer.
Mehrere internationale Teams plädieren daher für interdisziplinäre Teams, die Informatik, Ethik, Methodologie und Fachinhalte ausbalancieren. Gleichzeitig fordern Forschungsorganisationen wie die Max-Planck-Gesellschaft mehr Investitionen in „KI-Erklärbarkeitsforschung“.
Laut einer Erhebung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) von 2024 sagen jedoch nur 21 % der befragten Forschenden, sie fühlten sich ausreichend geschult im Umgang mit KI-Modellen – vor allem im Hinblick auf deren Grenzen.
Epistemologische Fragen: Was bedeutet Verstehen im Zeitalter der KI?
Philosophisch wirft die Entwicklung grundlegende Fragen auf: Gilt ein wissenschaftlicher Fakt erst dann als „verstanden“, wenn der Mensch ihn vollständig rekonstruieren kann? Oder genügt statistische Robustheit durch eine KI?
Das Problem hat auch praktische Implikationen: In den USA wurde 2025 ein Urteil des Obersten Gerichtshofs erwartet, ob KI-generierte Forschungsergebnisse als „patentfähig“ gelten, wenn deren Entstehungsprozess für Menschen nicht nachvollziehbar ist. Die Entscheidung könnte Signalwirkung auf die wissenschaftliche Praxis weltweit haben.
Transparenz versus technische Effizienz – diese Abwägung wird in Zukunft nicht nur ethisch, sondern auch juristisch und wirtschaftlich relevant sein.
Praktische Empfehlungen für Forschende im Umgang mit KI:
- Investieren Sie gezielt in Fortbildungen zur Interpretierbarkeit und Ethik von KI-Modellen.
- Verfolgen Sie hybride Methoden, bei denen KI-generierte Ergebnisse mit theoretischen Modellen rückgekoppelt werden.
- Stärken Sie die interdisziplinäre Zusammenarbeit – insbesondere mit Datenethikern, Informatikern und Philosophen.
Ausblick: Eine neue Wissenschaftslogik im Entstehen
Die gegenwärtige Transformation ist womöglich mit der kopernikanischen Wende vergleichbar: Maschinelles Verstehen könnte das menschliche Verstehen nicht ersetzen, wohl aber radikal ergänzen. Dadurch verändert sich nicht nur das „Wie“, sondern auch das „Was“ der Wissenschaft.
Die Dringlichkeit interdisziplinärer Debatten steigt. Eine neue Wissenschaftslogik könnte sich herausbilden, in der KI nicht nur Werkzeuge liefert, sondern epistemisch wirksam wird – etwa durch die Generierung von Theorien oder gar Paradigmen.
Für Universitäten, Forschungsinstitute und Entscheidungsträger liegt die Herausforderung darin, neue Regelsysteme zu entwickeln, die Vertrauen, Kontrollmechanismen, Transparenz und Innovation gleichermaßen fördern.
Wir stehen am Beginn einer spannenden Ära, in der KI nicht nur Werkzeuge, sondern auch intellektuelle Partner werden. Welche Regeln, Methoden und Konzepte dafür nötig sind, kann nur gemeinschaftlich ausgehandelt werden. Diskutieren Sie mit: Wie viel muss man verstehen, um wissenschaftlich glauben zu können?




