Der sogenannte Digital Omnibus der EU soll digitale Rechte vereinheitlichen und Märkte stärken – doch Kritiker warnen: Dahinter verbirgt sich ein gefährlicher Kurswechsel in der Datenschutzpolitik. Besonders bedenklich ist der wachsende Einfluss externer Interessen, allen voran aus den USA. Was bedeutet das für Bürgerrechte in Europa?
Was ist der Digital Omnibus der EU?
Der „Digital Omnibus“ ist ein Sammelbegriff für eine Reihe geplanter legislativer Änderungen der Europäischen Union, die darauf abzielen, verschiedene digitale Verordnungen wie den Digital Services Act (DSA), den Digital Markets Act (DMA), aber auch Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und ePrivacy-Reformen zu harmonisieren oder anzupassen. Unter dem Mantel der Vereinfachung und Modernisierung wird jedoch zunehmend Kritik laut: Einzelne Vorschläge innerhalb des Omnibus-Pakets laufen auf eine faktische Aushöhlung der DSGVO hinaus.
Insbesondere die geplante Lockerung von Datenübermittlungsregeln in Drittländer wie die USA sowie die mögliche Aufweichung der Zweckbindung (§5 Abs. 1 DSGVO) werden als Rückschritte gewertet. Laut einem Bericht von netzpolitik.org vom April 2024 zielen Entwürfe des Digital Omnibus darauf, Ausnahmen für „strategische Partnerstaaten“ bei der Datenverarbeitung und Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden zu schaffen. Experten befürchten, dass dies die Rechtsstaatlichkeit untergräbt, weil Bürgerrechte zugunsten externer Interessen geopfert würden.
Der transatlantische Druck: Warum US-Interessen im Spiel sind
Die regulatorischen Ambitionen der EU treffen auf geopolitische Realitäten: Die USA wünschen sich eine engere digitale Kooperation, insbesondere im Bereich der Cybersicherheit und beim Zugang zu digitalen Beweismitteln („Electronic Evidence“). Programme wie der US Cloud Act erlauben es amerikanischen Behörden, auf Daten von US-Unternehmen zuzugreifen – auch wenn diese außerhalb der USA gespeichert sind.
Im Gegenzug erwartet Washington eine größere Offenheit der EU, etwa durch Abkommen zur justiziellen Zusammenarbeit oder durch weniger restriktive Datenexportregeln. Analysten wie Max Schrems warnen daher, dass der Omnibus-paketierte Kompromiss die Unabhängigkeit und die hohen Datenschutzstandards der EU langfristig gefährden könnte.
Ein besonders kontroverses Detail: Im Rahmen des vorgeschlagenen Data Act sollen Unternehmen verpflichtet werden, Daten nicht nur EU-weit zu teilen, sondern auch mit Drittstaaten – ohne explizite Einwilligung der Betroffenen in jedem Fall. Der Gedanke hinter dieser Regelung: Wettbewerbsfähigkeit gegen China und die USA.
Bürgerrechte unter Druck: Kritik von Holger Bleich und NGOs
In einem empfehlenswerten Kommentar auf heise.de vom Oktober 2024 bringt Journalist Holger Bleich die Bedenken auf den Punkt: Die EU laufe Gefahr, ihre Rolle als digitale Wertegemeinschaft zu verspielen. Statt wie bislang als globales Vorbild für starke Grundrechte im digitalen Raum zu agieren, drohe eine Transformation hin zu pragmatischer Regulierung nach geopolitischem Opportunismus.
Bleich warnt explizit vor den missbräuchlichen Folgen der vorgesehenen Präventionsmechanismen, insbesondere bei der Vorab-Speicherung von Kommunikations- und Metadaten unter dem Deckmantel von IT‑Sicherheitsstrategien. NGOs wie der European Digital Rights (EDRi) oder Access Now kritisieren die Pläne ebenfalls scharf. EDRi veröffentlichte im Mai 2024 eine Stellungnahme, in der vor „tektonischen Verschiebungen“ im digitalen Grundrechtsschutz gewarnt wurde.
Die Folge: Ein zunehmend transparenzarmer Prozess rund um den Digital Omnibus – mit konsolidierten Texten, die oft erst spät öffentlich einsehbar sind. Das untergräbt nicht nur öffentliche Debatten, sondern auch das parlamentarische Kontrollprinzip.
Europas Rolle als globaler Datenschutzakteur
Seit Inkrafttreten der DSGVO im Jahr 2018 betrachtet sich die EU als Schutzmacht für digitale Selbstbestimmung. Ihr Modell wurde in zahlreichen Staaten, darunter Brasilien (LGPD), Südkorea und Südafrika, als Vorbild genutzt. Gleichzeitig trugen Urteile des Europäischen Gerichtshofs – wie „Schrems II“ von 2020 – wesentlich zur Betonung von Datenschutz als Menschenrecht bei.
Doch dieser moralische Führungsanspruch gerät zunehmend unter Druck. Die Statistik zeigt: Laut Eurobarometer-Umfrage aus dem Herbst 2023 halten 72 % der EU-Bürger Datenschutz für „essenziell“ – doch nur 38 % trauen Behörden zu, ihn effektiv zu gewährleisten. Das Vertrauen sinkt, wenn gesetzliche Schutzmechanismen hinter verschlossenen Türen aufgeweicht werden.
Hinzu kommt der wirtschaftspolitische Druck: Laut dem Digital Economy and Society Index (DESI) 2024 liegt Europa in der Kategorie „Datenwirtschaft“ weiterhin deutlich hinter den USA und China. Der Reflex, regulatorisch gegenzusteuern, riskiert gefährliche Fehlanreize.
Zwischen Kompromiss und Kapitulation: Wie viel Schutz bleibt?
Die entscheidende Frage lautet: Wird der Digital Omnibus zum Modernisierungsbooster oder zum Einfallstor für Überwachung und Rechteabbau? Derzeit deuten viele Anzeichen auf Letzteres hin.
Ein Beispiel dafür ist die geplante Ausweitung der Zugriffsrechte von Strafverfolgungsbehörden. Während aktuelle Regulierungen stark auf die Minimierung und Verhältnismäßigkeit von Datennutzung achten, könnten neue Ausnahmen im Digital Omnibus – etwa bei „grenzüberschreitender Gefahrenabwehr“ – Schutzstandards deutlich reduzieren. Kritiker vergleichen dies mit den Anfängen der Vorratsdatenspeicherung, nur unter neuer politischer Flagge.
Gleichzeitig gibt es Versuche, zentrale Begriffe wie „berechtigtes Interesse“ (Art. 6 DSGVO) auszuweiten. Würde dies gesetzlich verwässert, könnten Unternehmen und Behörden weitaus größere Datenmengen verarbeiten – mit unklaren Folgen für Betroffene. Die Datenschutzkonferenz (DSK) der Bundesländer meldete im Juni 2024 „grundsätzliche Bedenken“ gegen entsprechende Vorschläge aus Brüssel.
Was Einzelpersonen und Organisationen tun können
Auch wenn die politische Rahmendebatte komplex erscheint, lassen sich im Alltag konkrete Schritte ableiten, um Datenschutzrechte zu stärken und zu verteidigen:
- Transparenz einfordern: Informieren Sie sich proaktiv über Gesetzesinitiativen wie den Digital Omnibus, etwa über Portale wie EDRi, netzpolitik.org oder den EU Policy Tracker.
- Stellungnahmen mitzeichnen: Unterstützen Sie zivilgesellschaftliche Kampagnen, Petitionen und Konsultationen, um öffentlichen Druck auf Politiker auszuüben.
- Datensparsamkeit leben: Reduzieren Sie aktiv die eigenen digitalen Spuren – durch Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, Datenschutzfreundliche Alternativen (z. B. Signal statt WhatsApp, ProtonMail statt Gmail) und weniger Plattformabhängigkeit.
Besonders für Unternehmen gilt: Die geplanten Änderungen könnten Compliance-Risiken erhöhen, wenn alte Prozesse DSGVO-konform waren, jedoch durch nationale Erleichterungen überholt scheinen. Eine kontinuierliche rechtliche Prüfung wird unerlässlich sein, um Bußgelder zu vermeiden und Verantwortung wahrzunehmen.
Fazit: Europas Werte auf dem Prüfstand
Der Digital Omnibus könnte eine neue Ära der Europäischen Digitalpolitik einläuten – doch welche Richtung er einschlägt, ist entscheidend. Geht die Balance zwischen geopolitischer Kooperation und Grundrechtsschutz verloren, droht Europa seine digitale Identität zu verspielen. Statt Kompromisse zu Lasten der Bürger einzugehen, braucht es mehr öffentliche Debatte, interdisziplinäre Kontrolle und Stärkung der zivilgesellschaftlichen Stimme.
Es gilt nun, wachsam zu bleiben und sich aktiv einzubringen: Was wollen wir von Europas digitaler Zukunft – und wie verteidigen wir unsere Rechte im Netz? Diskutieren Sie mit unserer Community und teilen Sie Ihre Gedanken zum Digital Omnibus auf unserer Plattform oder in den sozialen Medien.




