Der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) im Berufsalltag nimmt rasant zu – doch was passiert, wenn smarte Systeme fatale Fehler machen? Wer haftet für Fehleinschätzungen autonomer Algorithmen bei kritischen Entscheidungen? Diese Fragen werden für Unternehmen und Entwickler immer drängender.
Rechtliches Neuland: KI zwischen Werkzeug und Akteur
Der technologische Fortschritt bei KI-Systemen stellt klassische Haftungskonzepte des Zivil-, Straf- und Arbeitsrechts zunehmend auf die Probe. Während KI früher meist als passives Tool diente, treffen heute schon viele Systeme – etwa in der Personalrekrutierung, im Finanzsektor oder in der medizinischen Diagnostik – autonome Vorentscheidungen. Rechtlich werfen diese Systeme jedoch bislang mehr Fragen auf, als sie lösen.
Rechtsexpertin Prof. Dr. Mira Lutz, Inhaberin des Lehrstuhls für IT- und Technikrecht an der Universität Passau, bringt es auf den Punkt: „Solange wir Systeme nutzen, deren Lernprozesse und Entscheidungsfindungen wir nicht vollständig nachvollziehen können, bewegen wir uns immer gefährlicher auf der Kante zwischen technischer Innovation und rechtlicher Grauzone.“
Zwischen Hersteller, Nutzer und Entwickler: Haftung im KI-Dreieck
Ein zentrales Problem liegt in der Identifikation des Haftenden bei KI-Schäden. Denn anders als bei klassischen Produkten oder Dienstleistungen gibt es oft keine eindeutig zuzuordnende Person oder Instanz für einen Fehler.
- Herstellerhaftung: In vielen Fällen ist der Anbieter einer KI-Lösung primär verantwortlich, vor allem, wenn das System fehlerhaft programmiert oder unzureichend getestet wurde. Nach dem europäischen Produkthaftungsrecht könnte eine KI-Software als Produkt im Sinne der Richtlinie 85/374/EWG gelten.
- Nutzerhaftung: Unternehmen, die KI-Systeme einsetzen, tragen eine Mitverantwortung. Besonders, wenn Systeme ohne ausreichende Kontrolle oder ohne Schulung des Personals genutzt werden. Eine Fachkraft, die sich blind auf KI-Entscheidungen verlässt, kann mitverantwortlich gemacht werden.
- Fehlende abschließende Regulierung: Bislang gibt es keine konsolidierte rechtliche Regelung, die für alle potenziellen KI-Haftungsfälle gilt. Das am 21.05.2024 endgültig verabschiedete EU-KI-Gesetz (AI Act) bringt zwar eine regulatorische Struktur, regelt aber keine zivilrechtliche Haftung in der Tiefe.
Neue Gesetzesinitiativen: Der AI Act und der Produkthaftungsvorschlag
Mit dem AI Act nimmt die Europäische Union eine Pionierrolle bei der Regulierung künstlicher Intelligenz ein. Das Gesetz klassifiziert KI-Systeme in Risikostufen und schreibt unter anderem Transparenz- und Sicherheitsvorgaben vor. Rechtlich entscheidend ist jedoch die Parallelinitiative: der am 28.09.2022 vorgeschlagene AI Liability Directive sowie die überarbeitete Produkthaftungsrichtlinie (COM/2022/495), die besonders Hersteller stärker in die Pflicht nehmen soll.
Beide Vorschläge zielen darauf ab, bestehende Haftungslücken zu schließen, indem sie Beweiserleichterungen für Geschädigte schaffen. So sollen Betroffene künftig nicht mehr lückenlos nachweisen müssen, dass der Schaden direkt auf einen Fehler der KI zurückzuführen ist – was bei selbstlernenden Systemen oft unmöglich ist.
Ein Beispiel: Wird ein KI-Bewerbungssystem für Diskriminierung verantwortlich gemacht, weil es etwa weibliche Bewerber systematisch schlechter bewertet, könnten künftig Entwickler und Betreiber auch ohne konkreten Nachweis algorithmischer Absicht haften.
Haftung in der Praxis: KI-Fehler mit Realitätspotenzial
Zahlreiche reale und hypothetische Szenarien veranschaulichen, wie komplex sich KI-Haftungsfragen gestalten:
- Medizinische Fehlentscheidung: Ein KI-gestütztes Diagnosewerkzeug verkennt einen Tumor als harmlos. Wer haftet – der Arzt, der Hersteller oder das Krankenhaus?
- Autonomes HR-Tool: Eine KI sortiert wiederholt Bewerbungen von qualifizierten Kandidatinnen aus. Diskriminierungsvorwürfe führen zu rechtlichen Klagen.
- Finanzentscheidsysteme: Eine KI rät fehlerhaft von einem Kredit ab, was zu Geschäftsschäden führt. Unternehmer fordern Schadenersatz – von wem?
Hier zeigt sich: Ohne transparente Entscheidungslogik sind KI-Systeme schlecht nachvollziehbar – und die Beweisführung für Geschädigte enorm erschwert.
Aktuelle Studien untermauern den Handlungsbedarf. Laut einer Umfrage des Bitkom (2023) sehen 74 % der Unternehmen rechtliche Unsicherheiten als Haupthindernis für den KI-Einsatz. Eine Studie der Europäischen Kommission (2022) ergab zudem, dass 60 % der befragten Verbraucher sich nicht sicher sind, ob sie im Falle eines KI-Schadens ihre Rechte durchsetzen können.
Haftungsszenario Unternehmensumfeld: Wer sollte vorsorgen?
Besonders in Unternehmenskontexten werden KI-Tools mit wachsender Verantwortung eingesetzt – zum Teil ohne das nötige juristische Risikomanagement. Dabei sind einige Grundsätze zu beachten:
- Dokumentation und Transparenz: Jeder Schritt im Lebenszyklus eines KI-Systems – von Training über Test bis Deployment – sollte nachvollziehbar dokumentiert werden.
- Klare Rollenverteilung: Wer implementiert, nutzt, überwacht oder entwickelt ein System? Je genauer die Zuständigkeiten geregelt sind, desto klarer lässt sich Haftung zuordnen.
- Kontinuierliches Monitoring: KI-Systeme dürfen nicht im Blindflug laufen. Regelmäßige Nachjustierungen und Audits sollten unternehmensinterne Pflicht werden.
Auch der Abschluss zusätzlicher Versicherungen wird von Juristen empfohlen. Cyberversicherungen decken derzeit oft keine spezifischen KI-Schäden ab – und müssen angepasst oder erweitert werden.
Praktische Empfehlungen für Organisationen:
- Implementieren Sie KI-Ethik-Kodizes und Compliance-Prozesse für alle KI-gestützten Entscheidungsprozesse.
- Schulen Sie Fachkräfte in kritischer KI-Nutzung und rechtlicher Verantwortung im Umgang mit selbstlernenden Systemen.
- Halten Sie Rücksprache mit Rechtsexperten und prüfen Sie bestehende Verträge auf Haftungsklauseln bei KI-Anwendungen.
Ein prominentes Beispiel für gute Praxis ist das Schweizer Spitalnetzwerk Insel Gruppe, das bei der Einführung von Diagnose-KI-Tools multidisziplinäre Ethik- und Rechtsteams einbindet und Transparenzmaßnahmen zur Nachvollziehbarkeit implementiert.
Immer mehr Gesetzgeber und Unternehmen verfolgen dieses Prinzip, um Vertrauen bei Mitarbeitenden und Patienten zu sichern.
Neue Wege der Verantwortlichkeit: Diskussion um „elektronische Person“
2017 forderte das Europäische Parlament erstmals die Diskussion über eine „elektronische Person“ mit rechtlicher Eigenverantwortung bei KI-Systemen. Dies sollte insbesondere bei Systemen mit eigener Lernlogik greifen. Der Vorschlag stieß jedoch auf breite Kritik – unter anderem vom deutschen Ethikrat. Bislang wurde er nicht weiterverfolgt, doch er illustriert die Suche nach neuen Haftungskonzepten in einer digitalen Zukunft.
Statt auf juristische Fiktionen zu bauen, setzt sich mittlerweile zunehmend der Standpunkt durch, dass klare Verantwortungsketten zwischen menschlichen Akteuren und Systementwicklern entscheidend sind. Auch der AI Act geht in diese Richtung: Er verpflichtet Entwickler, Datenqualität, Erklärbarkeit und Nachvollziehbarkeit sicherzustellen – wobei Verstöße zu Bußgeldern von bis zu 35 Mio. Euro führen können.
Zukunftsausblick: KI-Haftung ist eine Gemeinschaftsaufgabe
Die Debatte um KI-Haftung zeigt: Technologischer Fortschritt kann nur mit juristischer Verantwortung einhergehen. Für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft entsteht die gemeinsame Aufgabe, Künstliche Intelligenz nicht nur leistungsfähig, sondern auch rechtssicher zu machen. Dabei ist Prävention besser als juristische Aufarbeitung im Schadensfall.
Denn nur wer Sicherheit schafft, schafft Akzeptanz. Und nur wenn die Verantwortung zwischen Entwicklern, Nutzern und Anbietern klar verteilt ist, kann KI ihr volles Potenzial entfalten – ohne unzumutbare Risiken für Individuen oder Organisationen.
Wie sieht der Umgang mit KI-Risiken in Ihrem Unternehmen aus? Welche Haftungskonzepte verfolgen Sie oder wünschen Sie sich? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren und teilen Sie Ihre Erfahrungen mit der Community!




