Die Welt des Frontend-Developments hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert — neue Frameworks, neue Tools, neue Anforderungen. Doch die technische Evolution allein erklärt nicht alles. Immer lauter wird die Frage nach einem philosophischen Fundament: Was macht gutes Frontend eigentlich aus? Der Begriff „Frontend Dogma“, erstmals kontrovers im Workingdraft Podcast thematisiert, entzündet eine fällige Debatte über Prinzipien, Effizienz und Nachhaltigkeit im Web.
Was ist das „Frontend Dogma“?
Der Begriff „Frontend Dogma“ stammt nicht aus einem offiziellen technischen Manifest, sondern beschreibt eine Haltung: ein Set aus Überzeugungen und Prinzipien, nach denen frontendseitige Architektur gedacht und gelebt werden sollte. Im Workingdraft Podcast (Episode 578) diskutierten Anselm Hannemann, Peter Kröner und Hans Christian Reinl dieses emergente Denkmuster, das tief in Architekturentscheidungen, Tool-Auswahl und Teamprozesse eingreift.
Im Kern geht es um die Fragen: Wie viel Komplexität ist notwendig? Wann ist ein Framework gerechtfertigt? Wo liegt der schmale Grat zwischen Entwicklererlebnis (Developer Experience, DX) und Nutzererlebnis (User Experience, UX)? Die zentrale These: Frontendentwicklung steht an einem Scheidepunkt, an dem Philosophie wichtiger wird als Toolästhetik.
Der historische Kontext: Von JQuery zu Jamstack
In der Vergangenheit war Frontend überwiegend technisch motiviert. Mit dem Aufkommen von JavaScript und Bibliotheken wie jQuery in den frühen 2010er-Jahren wurden Interaktivität und DOM-Manipulation entscheidend. Die nächste große Welle – Angular, React, Vue – legte den Fokus auf komponentenbasierte Entwicklung, oft mit steiler Lernkurve.
Heute sind wir bei Next.js, Astro, SvelteKit – Tools, die Server-Side Rendering, Static Site Generation, Edge Functions und Islands Architecture kombinieren. Diese Toollandschaft ist produktiv, aber auch überfordernd. Das Dogma reagiert: Statt Toolglaube soll technologischer Pragmatismus dominieren.
Stimmen aus der Community
Prominente Entwickler:innen wie Rich Harris (Erfinder von Svelte) und Theo Browne (t3.gg, ehemalige Vercel) fordern ein Umdenken. Browne etwa propagiert in seinem Stack „create-t3-app“ bewusst die Kombination weniger, aber solide integrierter Tools wie TypeScript, tRPC, Tailwind CSS. Der Leitgedanke: reduce tech surface, increase stability.
Auch Entwicklerinnen wie Cassidy Williams (CTO bei Contenda, Ex Netlify) betonen in Podcasts und Vorträgen die Bedeutung eines grundsätzlichen Verständnisses darüber, was performant, wartbar und teamfreundlich ist. Die Kernidee: Technologieentscheidungen sind Kulturentscheidungen.
Dogmatische Prinzipien – eine Auswahl
Ob explizit formuliert oder implizit gelebt, folgende Maximen spiegeln die Frontend-Dogma-Debatte wider:
- Progressive Enhancement: Jede Website sollte auch mit minimalem Browser-Support benutzbar sein.
- Server-first: Immer dann, wenn es ohne JavaScript geht, sollte man es auch so tun.
- Build least, ship less: Wer weniger Code schreibt und ausliefert, verbessert Performance und Wartbarkeit.
- Konvention vor Konfiguration: Strukturen geben Sicherheit und fördern Team-Kohärenz.
Diese „Dogmen“ sind keine Dogmen im religiösen Sinne, sondern bewusste Leitlinien. Was zählt, ist der Diskurs darüber – und das Bewusstsein dafür, dass Architekturentscheidungen tiefgreifende Implikationen haben.
Entwicklungen und Daten zum Status quo
Wie überladen moderne Frontends tatsächlich sind, zeigen aktuelle Analysen. Laut dem HTTP Archive Web Almanac 2023 liegt die durchschnittliche JavaScript-Größe pro Seite inzwischen bei 468 KB – ein Anstieg von 29 % gegenüber 2020 (Quelle: https://almanac.httparchive.org/de/2023/page-weight). Gleichzeitig steigt die Anzahl ausgelieferter Skripte stetig, mit negativen Folgen für Ladezeiten und mobile Nutzer:innen.
Eine Umfrage von Stack Overflow (2024) zeigt: 72 % der befragten Webentwickler:innen geben an, dass Toolvielfalt und Entscheidungsdruck ihre tägliche Arbeit verkomplizieren (Quelle: https://survey.stackoverflow.co/2024/). Der Bedarf an vereinfachenden Prinzipien ist somit kein akademisches Thema, sondern unmittelbare Reaktion auf eine überkomplexe Realität.
Philosophie vs. Pragmatismus
Die Debatte dreht sich auch um die Gratwanderung zwischen Idealismus und Realität. Wer dogmatisch für „No JavaScript“ eintritt, riskiert, moderne UX-Anforderungen aus den Augen zu verlieren. Wer auf Frameworks wie React setzt, muss Performance und Ladezeit auf die Goldwaage legen. Deswegen plädiert der Frontend-Dogma-Ansatz für bewusste Reduktion, nicht für dogmatischen Verzicht.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die wachsende Popularität von Frameworks wie Astro, das JavaScript standardmäßig nur dort läd, wo es gebraucht wird („Islands Architecture“). Diese Architektur erlaubt den Mittelweg aus Server-generiertem HTML mit interaktiven Komponenten – ein pragmatischer Kompromiss zwischen Performance und Komfort.
Best Practices: Was Teams konkret tun können
Wie lässt sich die Diskussion praktisch in produktiven Teams abbilden? Drei Handlungsempfehlungen:
- Technologieradar einführen: Entwickelt regelmäßig gemeinsam Prinzipien, welche Tools, Konventionen und Patterns für euer Frontend gelten. Haltet Entscheidungen transparent und versioniert fest.
- Architektur-Reviews standardisieren: Führt zu jedem Projekt einen dogmatischen „Check-in“ durch: Welche Anforderungen werden gestellt, und wie können sie möglichst nachhaltig erfüllt werden?
- Schulungen zu „Web Literacy“: Viele Probleme entstehen aus Unwissen. Bietet interne Trainings zu Themen wie Barrierefreiheit, Netzwerkperformance oder DOM-Strategien abseits komplexer Frameworks.
Dogma als Werkzeug, nicht als Dogma
Niemand braucht neue Glaubenskriege im Frontend. Doch der Begriff „Dogma“ kann kraftvoll sein, wenn er als Werkzeug dient: um Teams eine sprachliche Grundlage für Diskussionen zu geben, um Zielkonflikte zu erkennen und um gegen kurzfristiges Tech-Hopping standzuhalten. In dieser Lesart ist das Frontend-Dogma nichts Absolutes – sondern ein stabiler Kompass im stürmischen Web.
Fazit: Prinzipien sind keine Last, sondern Orientierung
Frontend-Architektur braucht keine neuen Götter – aber dringend neue Maßstäbe. In einer Zeit, in der Tooling jeden Monat neu gedacht wird, hilft der dogmatische Blick dabei, Werte zu verankern: Performance, Nachhaltigkeit, Zugänglichkeit, Langfristigkeit. Es geht nicht um weniger Technik, sondern um mehr Verantwortung in ihrem Einsatz.
Welche Prinzipien lebst du in deinem Stack? Welche Dogmen halten dich zurück – und welche geben dir Halt? Teile deine Gedanken in den Kommentaren oder auf GitHub: Die Diskussion um das Frontend Dogma ist noch lange nicht vorbei.




